Das Thema #hatespeech mit der Diplomatie in Zusammenhang zu bringen, mag auf den ersten Blick irritieren, galt die Kunst der diplomatischen Ausdrucksweise doch seit jeher als die Königsdisziplin der Diplomatie, in der kein Platz für verbale Entgleisungen oder Emotionen war. Gleichzeitig gibt es wohl kein Feld der Politik, das so sehr durch Verhaltensregeln reglementiert ist wie das der Außenbeziehungen – und das aus gutem Grund: Während des Utrechter Friedenskongresses (1712-1715), der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, drohte der französische König, Ludwig XIV. 1712 plötzlich mit dem Abbruch der Verhandlungen, weil einer seiner Gesandten, Monsieur Menager und dessen Diener vom Gefolge des niederländischen Gesandten, Graf von Rechteren, angegriffen, beleidigt und damit in ihrer Ehre verletzt worden sein sollen. Diese Forderung stellte den Höhepunkt eines diplomatischen Zwischenfalls dar, der die daran beteiligten Akteure und die Öffentlichkeit mehrere Wochen in Atem hielt. Für den heutigen neutralen Beobachter stellt sich die Frage: Wie konnte eine Beleidigung eine derart drastische Reaktion und damit eine solch veritable politische Krise auslösen? Aber der Reihe nach…

Der Vorfall ereignete sich am 27. Juli 1712. An diesem Tag fuhren die zwei niederländischen Gesandten, Graf von Rechteren und Monsieur de Moermont, in einer Kutsche an der Unterkunft von Monsieur Menager vorbei, der einer von drei französischen Bevollmächtigten auf dem Utrechter Friedenskongress war. Dabei sollen die Lakaien, die hinter der Kutsche herliefen, von den französischen Bediensteten, die vor dem Hauseingang standen, ausgepfiffen sowie mit obszönen Gesten und Grimassen beleidigt worden sein. Allerdings gestaltete sich die Lage am „Tatort“ äußerst unübersichtlich: Wir kennen nicht den Anlass für den Vorfall und es war nicht einmal klar, ob sich die Beleidigungen gegen die Dienerschaft oder gegen die zwei in der Kutsche sitzenden niederländischen Gesandten richtete. Auch ein in den Quellen lediglich als „Schweizer“ bezeichneter Augenzeuge des Geschehens erwies sich als nicht zuverlässig. Dennoch verlangten die zwei niederländischen Gesandten von Menager über ihren Sekretär eine „angemessene und ehrenvolle Satisfaktion.“ Für sie stand außer Frage, dass das Gefolge von Gesandten genauso Immunität genieße wie die Gesandten selbst und dass demzufolge ein Angriff, egal ob mit Worten oder Taten, auf Bedienstete einem Angriff auf die Gesandten selbst gleichkäme. Demzufolge beriefen sie sich auf Art. 8 der Utrechter Zeremonialordnung, der besagte:
„Wann wer aus denen Hausgenossen eines Bevollmächtigten mit eines andern Bevollmächtigten Seinigen in Zwitracht/ […] verfallen mögte/ solle der Urheber also gleich dem Herrn dessen/ so angegriffen worden/ in Gewalt/ und zur billigsmässigen Rechtsverfügung übergeben werden.“ [1]
Menager wies jeden Schuldvorwurf gegenüber seinen Bediensteten zurück, zumal die Ankläger nicht zweifelsfrei nachweisen konnten gegen wen sich die Beleidigungen richteten und ob es sich hierbei um Straftaten handelte, die „gegen die Vorschriften des Utrechter Friedenskongresses & gegen die Gesetze zur Bewahrung der öffentlichen Ruhe“ verstießen, womit die Utrechter Zeremonialordnung gemeint war. Die grundlegende Meinungsverschiedenheit bestand darin, dass Menager einen Unterschied darin sah, ob seine Bediensteten die niederländischen Gesandten oder ihre Diener beleidigt hatten, während die niederländischen Ankläger dies verneinten. Wäre aus heutiger Perspektive der Fall im Zweifel für den Angeklagten zu den Akten gelegt worden wäre, ließen die niederländischen Gesandten den Fall nicht auf sich beruhen und sorgten dafür, dass der Fall weiter eskalierte.
Bei einer Promenade am Abend des 18. August begegneten sich Menager und der Graf von Rechteren samt Gefolge. Letzterer ging auf Menager zu, um darauf hinzuwirken, dass er von ihm bezüglich des Vorfalls nach wie vor Satisfaktion verlange. Menager jedoch lehnte weiterhin jede Verantwortung und auch den Vorschlag Rechterens nach einer Gegenüberstellung der Bediensteten, um die Schuldigen zu finden, ab, „denn neben der gegen die üblichen Regeln verstoßenden Übergabe der Beschuldigten an die Ankläger könnten seitens der Bediensteten Vorwürfe auftreten, die jeden Tag neue Streitigkeiten nach Lust und Laune austragen würden.“ Menager wies also nicht nur jede Schuldzuweisung von sich, sondern bezichtigte die Bediensteten des Grafen aufgrund ihres niederen Ranges indirekt der Lüge. Daraufhin überschlugen sich die Ereignisse, denn abseits der Prominierenden waren die Bediensteten Rechterens und Menagers in ein Streitgespräch über den Vorfall am 27. Juli geraten, in deren Verlauf ein Diener des Grafen einen Lakaien Menagers beleidigte, ihm eine Ohrfeige verpasste und Messerstiche angedroht haben soll, woraufhin die Dienerschaft Menagers auf das Gefolge des Grafen losgehen wollte. Zwar konnte Schlimmeres verhindert werden, aber der Fall schlug nun hohe Wellen, da Ludwig XIV., als er von dem Vorfall erfuhr, mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen drohte, sollten der Graf von Rechteren und seine Diener nicht aus Utrecht abberufen werden.
Der Minimalkonsens, auf den sich Kläger und Angeklagte einigen konnten, war, dass es einen Vorfall zwischen den Bediensteten der niederländischen Gesandten und des französischen Bevollmächtigten gegeben hat, von dem man aber mangels Beweisen und Zeugen nicht genau sagen konnte, ob dieser zweifelsfrei strafrechtlich relevant war. Der Grund, warum der Streit trotz der dürftigen Beweislage weiter eskalierte, liegt in einem für die Frühe Neuzeit unverzichtbaren Gut begründet – der Ehre.
Die Ehrverletzung, die einem Gesandten durch öffentliche Beleidigung zugefügt wurde, konnte für den Betroffenen weitreichendere Folgen haben, als wir uns es heute ausmalen können. In der Frühen Neuzeit rekrutierten sich die Angehörigen der diplomatischen Ränge überwiegend aus dem Adel, für den Ehre das entscheidende soziale Kapital für die Standeszugehörigkeit darstellte. Die Adelsehre war an gruppenspezifische Wert- und Rangvorstellungen geknüpft, die wiederum bestimmte Verhaltenserwartungen erzeugte, wie Tugend, Würde, Ruhm und Ehrgeiz. Das Insistieren auf eine ehrenvolle Satisfaktion trotz dürftiger Beweislage verdeutlicht, dass Ehre ein unverzichtbares Gut war und im Gegensatz zu Ruhm nicht individuell erworben, aber unwiederbringlich verloren gehen konnte. Nicht umsonst wurden Beleidigungen wie Schimpfwörter, Schmähgesten und Gewaltrituale in solchen „Ehrenhändeln“ von Anklägern gezielt eingesetzt, um die Angeklagten öffentlich zu diskreditieren. Wer sich hier unter Wert verkaufte, riskierte sein soziales Standing auf Dauer zu verlieren. Bei Gesandten kam hinzu, dass sie als Amtsträger nicht nur ihrer eigenen Ehre verpflichtet waren, sondern besonders der ihres Souveräns, dem sie dienten. Nahmen sie einen Ehrverlust billigend in Kauf, schadeten sie somit nicht nur sich selbst, sondern ruinierten gleichzeitig die Reputation, Autorität und Glaubwürdigkeit ihres Auftraggebers, was die zukünftige politische Verhandlungsposition erheblich geschwächt hätte. Daher konnte Rechteren die Ehrverletzung nicht einfach auf sich sitzen lassen, sondern bestand auf eine Wiedergutmachung und setzte damit eine verbale Gewaltspirale in Gang, die in diesem Fall zu physischer Gewalt führte.
Dass Ludwig XIV. mit dem Abbruch der Friedensverhandlungen drohte, hing damit zusammen, dass seit dem Mittelalter die Friedensstiftung und die Friedenswahrung als vornehmliche Aufgabe der politischen Entscheidungsträger galt, was einerseits einem christlichen Ehrverständnis entsprang und wovon andererseits die eigene Herrschaftslegitimation abhing. Wäre die niederländische Delegation auf die Drohung des französischen Königs eingegangen, hätte sie zugegeben, kein Interesse am Frieden zu haben, was ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit irreparablen Schaden zugefügt hätte. Freilich kam es bekanntlich nicht dazu – die Friedensverhandlungen wurden weitergeführt und gingen als Utrechter Friedensschlüsse in die Geschichte ein.
Die politischen Konsequenzen von ehrverletzenden Beleidigungen waren zweifelsohne weitreichender als dies heutzutage der Fall wäre. Dennoch gibt es zwei Aspekte in der verbalen Auseinandersetzung zwischen den Gesandtschaften, die auch für das #hatespeech-Konzept charakteristisch sind: So beleidigten die französischen Bediensteten nicht einfach eine Einzelperson, sondern einen politischen Amtsträger, der im Auftrag seines Souveräns in Utrecht den Frieden verhandelte. Der Gesandte repräsentierte seinen abwesenden Auftraggeber und musste dem Rang seines Souveräns entsprechend von den anderen Gesandten behandelt werden. Wurde er beleidigt, wurde in Wahrheit also eine Personengruppe beleidigt, wie dies bei #hatespeech auch der Fall ist. Nur so ist zu erklären, dass sich König Ludwig XIV. bei der Attacke der niederländischen Bediensteten auf seine französischen Vertreter auf der Promenade ebenfalls angegriffen fühlte, obwohl er persönlich nicht anwesend war. Außerdem zeigt der Verlauf der Auseinandersetzung genau das, wovor in der politischen und medialen Debatte um #hatespeech eindringlich gewarnt wird – wie aus Worten Taten werden können.
Referenzen
FRESCHOT, Casimir: Suite des Actes, Memoires, & autres pieces autentiques concernant la Paix d’Utrecht, Tome Second, Utrecht 1714.
Bild: Hotel de ville d‘ Utrecht ou s’assemblèrent les plénipotentiaires venus au congrès de la Paix générale (1713), Notice bibliographique Hotel de ville d’Utrecht ou s’assemblèrent les plénipotentiaires venus au congrès de la Paix générale : [estampe] | BnF Catalogue général – Bibliothèque nationale de France
Zum Weiterlesen
DINGES, Martin: Ehrenhändel als „Kommunikative Gattungen“. Kultureller Wandel und Volkskulturbegriff, in: Archiv für Kulturgeschichte, Band 75, Heft 2 (1993), S. 359-393.
KAMPMANN, Christoph: Der Ehrenvolle Friede als Friedenshindernis, in: SCHMIDT-VOGES u.a. (Hg.): Pax perpetua: Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, S. 141-156.
MÜLLER, Mario: Verletzende Worte. Beleidigung und Verleumdung in Rechtstexten aus dem Mittelalter und aus dem 16. Jahrhundert, Hildesheim 2017.
WIDMER, Paul: Diplomatie. Ein Handbuch, Zürich 2014.
[1] FRESCHOT, Casimir: Suite des Actes, Memoires, & autres pieces autentiques concernant la Paix d’Utrecht, Tome Second, Utrecht 1714.