Beleidigung, Verleumdung & „Slutshaming“ im 18. Jahrhundert
„Thou art the foulest whore I ever saw in my life!“
[auf Deutsch: „Du bist die widerlichste Hure die ich je in meinem Leben gesehen habe.“] Diese Beleidigung brachte Prudence Smith aus dem Dorf Wath in Yorkshire/England im Jahr 1750 dazu, vor Gericht zur gehen und den Mann anzuklagen, der sie vor den Augen ihrer Nachbarschaft derart beleidigt hatte.[1] Doch was bedeutete eine derartige Beleidigung für eine Frau in der Frühen Neuzeit und warum rechtfertigte eine solche Beleidigung die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens?
Eine Frau als Hure zu beschimpfen ist uns auch heute noch sehr vertraut. Auf der Straße aber auch in den Medien und sozialen Netzwerken sind Begriffe wie Hure oder Schlampe omnipräsent. Während es gegen Männer zahlreiche Beleidigungen gibt, die ganz unterschiedliche Aspekte der Männlichkeit angreifen, sind Beleidigungen gegen Frauen meist sexuell konnotiert. Zu kurzer Rock, zu stark geschminkt, zu flirty, zu viele oder häufig wechselnde Sexualpartner… die Liste von Verhaltensweisen, die Männer und Frauen (!) dazu veranlassen, andere Frauen als Hure zu diffamieren, ist lang und hat sich seit dem 18. Jahrhundert erstaunlich wenig verändert. Unter den #slutshaming und #metoo werden unzählige Anekdoten medial geteilt und diskutiert, in denen diese Mechanismen der geschlechtsbezogenen Diskriminierung und des Doppelstandards zwischen den Geschlechtern offengelegt werden. Denn trotz voranschreitender Emanzipation und Gleichberechtigung rufen bestimmte Verhaltensweisen auch heute Beleidigungen, Verurteilungen und jenseits unserer westlichen Lebenswelt auch drastische Strafen und Formen der Selbstjustiz hervor. „Hatespeech“ in Form von Beleidigungen, übler Nachrede oder Drohungen ist besonders in den sozialen Netzwerken allgegenwertig. Auch wenn sich diese Formen der „Hatespeech“ meist gegen einzelne Frauen richten, stehen diese immer auch für das Kollektiv der Frauen.

schildert den Niedergang einer jungen Frau, die zunächst als Dienstmädchen arbeitete, ihre Stellung durch Fehltritte und Alkoholkonsum verlor und in ein unehrenhaftes Leben als Prostituierte abdriftete. Sie illustriert das abschreckende Bild einer Frau, die durch den Verlust ihrer Ehre aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde.
Eine Frau als Hure zu beschimpfen verletzt ihre Ehre, stellt sie in der Öffentlichkeit bloß, verweist sie in vermeintlich „angemessene“ Geschlechtsrollen und Verhaltensmuster. Die Beleidigung beinhaltet – seitens derer die sie äußern- somit immer eine Vorstellung von „richtigem“ Verhalten und die Erwartung, dass sich alle Menschen diesen sozialen Normen und Konventionen unterzuordnen haben. Eine Nicht-Einhaltung dieses geschriebenen oder ungeschriebenen Verhaltenskodex führt dann zwangsläufig zu unterschiedlichsten Formen der Bestrafung. Von Gossip über Beleidigungen bis hin zu Ausgrenzung und drastischeren Formen der Selbstjustiz.
Obwohl uns viele Aspekte der sexuellen Verleumdung von Frauen auch heute noch bekannt sind, so gibt es doch einen zentralen Unterschied: die Ehrverletzung, die eine Frau im 18. Jahrhundert durch eine öffentliche Beleidigung als Hure oder Schlampe erlitt, hatte für sie viel weitreichendere Konsequenzen. Das wird auch am Beispiel von Prudence Smith deutlich:
Am 26. Juli 1750 hat Jonathan Charlesworth Prudence Smith, die Ehefrau von John Smith aus Wath in Yorkshire öffentlich als Hure beschimpft. Die Zeugenaussage des Nachbarn und Kleinbauern John Campsell gab zu Protokoll, dass Charlesworth Mrs. Smith wie folgt vor den Augen der Nachbarn verleumdete:
„God Damn thee for a Bitch and a Whore thou Strumpetly Whore; thou art the foulest Whore I ever saw in my Life.“ [Deutsch: Gott verdamme dich als eine Schlampe und eine Dirne, du schlampige Hure, du bist die widerlichste Hure, die ich je in meinem Leben gesehen habe.“]
In welchem Verhältnis Prudence Smith und Mr. Charlesworth standen, bleibt aufgrund der bruchstückhaften Berichterstattung in den Gerichtsakten leider ebenso im Unklaren wie der Anlass dieses öffentlichen Wortgefechtes. Bekannt ist jedoch die Tatsache, dass Mrs. Smith ihren guten Ruf durch diesen Akt der Verleumdung derartig bedroht sah, dass sie den Fall zur Anklage brachte. Doch warum hielt Prudence Smith diesen Schritt für notwendig?
In der Frühen Neuzeit war die Ehre der Frau ihr entscheidendes Kapital. Die Ehre der Frau war an einen strikten Verhaltenskodex gebunden, der etwa durch staatliche Gesetze, biblische und kirchliche Gebote und Rollenerwartungen aber auch durch das ungeschriebene Gesetz des lokalen „Custom“ (Brauchtum, Tradition) bestimmt wurde. Zu diesen Rollenerwartungen an Frauen zählten Tugenden wie Fleiß, Bescheidenheit und Frömmigkeit. Die sexuelle Sittlichkeit nahm dabei aber eine entscheidende Rolle ein. Wollte man eine Frau beleidigen und vor den Augen ihrer Community in Verruf bringen, so eignete sich nichts besser als ein Angriff auf ihre sexuelle Moral und Sittlichkeit. Allein die im Raum stehende Behauptung oder Andeutung einer vorehelichen Affäre oder eines Ehebruchs konnten genügen, um dem guten Namen der Person und ihrer gesamten Familie lang anhaltenden Schaden zuzufügen.
Wurde die Ehre einer Person öffentlich in Frage gestellt, so konnte dies ganz unterschiedliche Konsequenzen auf das Leben und die Zukunft der Frauen haben. Das Leben und Überleben vieler Menschen hing auch im 18. Jahrhundert noch stark von ihrer Einbindung in soziale Netzwerke ab. In einer Zeit, in der viele Menschen am Existenzminimum lebten und Krankheit, Ernteausfälle, Unwetter oder Seuchen die Lebensgrundlage jederzeit bedrohen oder entziehen konnte und es kaum staatliche Auffangmechanismen in Form von Versicherungen, Schadensersatz oder Unterstützungsleistungen gab, war die Hilfe durch die eigene Community, bestehend aus Familie, Verwandten, Freunden und Nachbarn essentiell und in vielen Fällen überlebensnotwendig. Gestärkt wurde dieses System, das häufig als „gute Nachbarschaft“ (im Englischen „good neighbourliness“) bezeichnet wurde, durch kleinere Hilfeleistungen wie etwa das Borgen von Nahrungsmitteln und Werkzeugen, über Hilfe bei der Ernte oder der großen Wäsche hin zur Unterstützung in der Beaufsichtigung und Versorgung von Kindern oder alten und kranken Mitgliedern innerhalb der Nachbarschaft. Aktive Mitglieder dieses Netzwerkes konnten sich in Notsituationen auf die Hilfe dieser Community stützen, was zahlreiche Petitionen oder Spendenaktionen belegen. Bedingung zur Aufnahme in diese Gemeinschaft war allerdings die Konformität mit den örtlich geltenden Bräuchen und Verhaltensnormen.
Die Anklageschrift des Prozesses vor dem Kirchengericht in York beginnt dementsprechend mit einem Charakterzeugnis der Klägerin, zu der die ins Gericht berufenen Zeugen Stellung nehmen sollten. Demnach wird beteuert:
„Prudence the wife of John Smith was and is a woman of good fame and upright Life and Conversation“. [Auf Deutsch: Prudence, die Ehefrau von John Smith war und ist eine Frau von gutem Ruf und aufrechtem Lebenswandel und Konversation].

Zu Unrecht sei sie von Charlesworth diffamiert und beleidigt worden. Die Zeugen, die im Gerichtfall für Prudence Smith aussagten, bestätigten dieses Charakterzeugnis, indem sie ihren anständigen und tadellosen Charakter, ihren guten Ruf, sowie ihre “good neighbourliness” anführten. Um dieser Aussage Gewicht zu verleihen, gab der Nachbar und Zeuge John Fonton an, die Klägerin schon länger als zehn Jahre zu kennen und ihren Charakter folglich gut beurteilen zu können. Fonton bestätigte auch, dass die öffentlich geäußerten Beleidigungen den guten Ruf von Prudence Smith verletzten und ihr erheblichen Schaden zufügten:
„The good name and reputation of the said Prudence Smith is injured by Jonathan Charlesworth“. [„Der gute Name und Ruf der besagten Prudence Smith wird durch Jonathan Charlesworth verletzt.“]
Wurde dieser gute Name und somit die Ehre der Person öffentlich angegriffen, so galt es, diese schnellstmöglich zu verteidigen, um einen Ausschluss aus der Gemeinschaft um jeden Preis zu verhindern. Denn auf dem Spiel stand nicht nur das Aushalten von Tratsch und spöttischen Kommentaren, sondern gelegentlich auch drastische Formen der lokalen Selbstjustiz: von Spottgedichten, lauten Prozessionen, in denen Ehebrecher_Innen öffentlich verspottet und bestraft wurden (Katzenmusik oder Skimmington genannt) über Ausgrenzung, Verlust der Anstellung und Unterkunft bis hin zu physischer Gewalt und Vertreibung.
Im Anbetracht dieser möglichen Konsequenzen ist der Gang vor Gericht also nicht länger verwunderlich. Eine Beleidigung als Hure war eben in der Frühen Neuzeit mehr als eine lapidare Beschimpfung, sie konnte der betroffenen Person den Platz in der Gemeinschaft, aber auch das elementare Überleben in einer von Krisen und Unsicherheiten durchzogenen Zeit erschweren. Aufgrund dieser drastischen Auswirkungen auf das Leben der beleidigten Frauen finden sich in der Frühen Neuzeit zahlreiche Konfliktfälle vor den regionalen Gerichten wieder. In einigen der lokalen Gerichte (weltlich und kirchlich) machten die Klagen, die unter den Schlagworten Beleidigung (defamation) und sexuelle Verleumdung (sexual slander) geführt wurden sogar einen Großteil der verhandelten Fälle aus. Frauen tauchten in diesen Fällen überproportional häufig als Klägerinnen und Angeklagte auf.[2]
Wie in vielen anderen Fällen wurde auch im Fall von Prudence Smith kein Urteil durch das Gericht gefällt. In der Forschung geht man in diesen Fällen von einer erfolgreichen außergerichtlichen Konfliktlösung aus. So ist es auch hier wahrscheinlich, dass der Gang vor Gericht als deutliches Zeichen der Klägerin verstanden werden kann, den Angriff auf ihre Ehre nicht hinzunehmen. Die Zeugenaussagen ihrer Nachbarinnen und Nachbarn sind Zeichen ihrer ungebrochenen Unterstützung und Solidarität. Und diese war essentiell für die erfolgreiche Lösung des Ehrkonfliktes.
Auch wenn die Konsequenzen, die durch derartige Verleumdungen und Beschimpfungen hervorgerufen werden, heute in den meisten Kontexten weitaus weniger drastisch und lebensbedrohend sind, so werden in diesen Vorfällen eben jene Mechanismen fortgeführt und manifestiert, in denen Menschen in feststehende Normen gedrängt und für Nonkonformität belästigt, bestraft und ausgegrenzt werden.
Referenzen:
- Kirchengerichtsakten der Diözese York. Signatur CP.I.1363. Borthwick Institute for Archives. York (UK).
2. Fay Bound: ‚An Angry and Malicious Mind‘? Narratives of Slander at the Church Courts of York, c.1660-c.1760, History Workshop Journal 56, Volume 1, 2003. S. 69.
Bild: Richard Newton: Progress of a Woman of Pleasure (1794), gedruckt bei William Holland, London 1796.https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Richard_Newton_Progress_of_a_Woman_of_Pleasure_1794.jpg
Zum Weiterlesen:
Fay Bound: ‚An Angry and Malicious Mind‘? Narratives of Slander at the Church Courts of York, c.1660-c.1760, History Workshop Journal 56, Volume 1, 2003.
Alexandra Shepard, “Honesty, Worth and Gender in Early Modern England, 1560-1640,” in Identity and Agency in England, 1500-1800, ed. Henry French and Jonathan Barry (Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2004).
Ruth Goodman: How to behave badly in Elizbethan England: a guide for knaves, fools, harlots, cuckolds, drunkards, liars, thieves, and braggarts, London, 2018
Zum aktuellen Diskurs um Slutshaming gibt es einen spannenden Podcast von Alice Hasters/Maximiliane Häcke: Feuer & Brot Podcast: „Slutshaming. Über Instabitches und Ehrenfrauen. Folge 19, 2018: https://soundcloud.com/feuerundbrot/19-slutshaming-uber-instagram-bitches-und-ehrenfrauen