All you need is Love?
Um die Liebe in der Frühen Neuzeit ranken sich viele Stereotype, die in historischen Romanen, Serien und Filmen, und lange Zeit sogar in der Geschichtsforschung bestärkt wurden. Ein weit verbreitetes Stereotyp lautet: Die Liebe und die Liebesheirat etablierte sich erst im 19. Jahrhundert. Bis dahin wurden Ehen vor allem aus finanziellen oder machtpolitischen Gründen der Familie oder Dynastie geschlossen. Dass machtpolitische Interessen in den Familien des europäischen Hochadels bis heute ein wichtiges Kriterium der Partnerwahl darstellen ist ziemlich offensichtlich. Doch wie wählten ganz normale Bürger:innen ihre Partner:innen aus und welche Kriterien und Voraussetzungen waren dabei wichtig?

Wir treffen den englischen „Tuch-Inspektor“ Thomas Wright of Birkenshaw (1736-1801) aus Yorkshire. In seiner Autobiographie hielt Thomas seine Lebens- und Liebesgeschichte für seine Kinder und deren Nachkommen fest. Da sein Enkel das geerbte Manuskript für so spannend und lehrreich hielt, dass er es auch anderen Leser:innen zugänglich gemacht werden sollte, veröffentlichte er es im Jahr 1864. Thomas Wrights Autobiographie nimmt uns mit in das Leben im ländlichen Yorkshire. Obwohl die Industrialisierung der Textilindustrie in den großen Städten des englischen Nordens rapide voran ging, blieb das Leben in den umliegenden Dörfern davon weitestgehend unberührt. Thomas Wrights Alltag war vor allem durch seine Familie und Nachbarn bestimmt – sein Berufsleben war kein zentraler Inhalt seiner Autobiographie, wohl aber die geglückten und gescheiterten Liebesgeschichten und die Familienkonflikte die sich daraus ergaben.
Da Ehestreit und Ehebruch in der Frühen Neuzeit als Gefahr für den Frieden des Hauses und der Gemeinschaft verstanden wurden, war es essentiell, eine kluge Partnerwahl zu treffen. Da es nur in äußerst seltenen Fällen möglich war, eine Ehe annullieren zu lassen oder eine gerichtlich anerkannte „Trennung von Tisch und Bett“ zu erwirken, war die Ehe eine lebenslange Verbindung, die erst durch den Tod eines Partners aufgelöst wurde. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass ein gutes „Match“ der Eheleute als wichtigste Voraussetzung einer guten Ehe verstanden wurde. Herkunft, Stand und sozialer Status waren für die Auswahl ebenso wichtig wie finanzielle und materielle Aspekte. Doch auch wenn in der Forschung und in den Geschichtsdarstellungen in Büchern, Filmen und Serien lange Zeit das Bild von lieblosen arrangierten Ehe aufrecht erhalten wurden, konnten neuere Studien zeigen, dass auch die Liebe in diese Überlegungen einbezogen wurde. Allerdings war das Verständnis der Liebe ein ganz anderes als spätere Konzepte der „Liebesheirat“ vertraten. Leidenschaftliche Liebe, stürmische Gefühle und starke sexuelle Anziehung galten nämlich als gefährlich. Sie bedeuteten Chaos und Unsicherheit, konnten zu Konflikten zwischen Eltern und Kindern führen und schnell wieder erkalten. Unerfüllte Liebe konnte die Menschen krank vor Liebe machen oder gar in den Freitod führen, wie es Goethe in seinem äußerst populäreren Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) schilderte, indem Werther sich aus unerfüllter Liebe zur verheirateten Lotte das Leben nahm. Als Fundament einer lebenslangen Partnerschaft schien die leidenschaftliche Liebe also absolut ungeeignet zu sein. Liebe als Basis einer Ehe war vielmehr durch gegenseitige Zuneigung, Respekt und Gehorsam gekennzeichnet. Eine gute Ehe basierte im Idealfall also auf Geld und Liebe – die allerdings nicht zu stürmisch sein sollte.
Zurück zu Thomas: Der junge Thomas wurde durch den frühen Tod beider Eltern zum Waisenkind, dass zunächst bei der Großmutter aufwuchs. Als auch die Großmutter starb, lebte er bei Tanten und Verwandten, die ihn zwar bei sich unterbrachten, ihn aber nur mit dem Notwendigsten versorgten. Durch diese „Pilgerreise“ durch die Haushalte seiner Verwandtschaft, wie er sie selbst nannte, hatte er einen schwierigen Start ins Berufsleben, da ihm seine Verwandten nur eine grundlegende Bildung, aber keine Ausbildung oder gar ein Studium finanzieren konnten oder wollten. Der clevere Thomas bedauerte dies sein Leben lang. Auch seine Chancen auf dem Heiratsmarkt wurden durch den fehlenden Beruf beeinträchtigt. Denn im 18. Jahrhundert war die berufliche und finanzielle Eigenständigkeit eine der wichtigsten Voraussetzungen, um heiraten und einen eigenen Hausstand gründen zu können. Bei seinen ersten Versuchen, Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufzunehmen, ist diese Verunsicherung deutlich spürbar. Er war unbeholfen, hatte Angst, dass die Damen ihn nicht als „gute Partie“ sehen könnten, also traute er such entweder gar nicht erst sie anzusprechen, oder er ließ sich schnell entmutigen.
Als er die erst zwölfjährige Lydia Birkhead kennen lernte, verliebte er sich sofort in sie. Lydia war jung, hübsch, religiös und gebildet. Sie stammte aus einer respektablen Familie aus Thomas‘ Nachbarschaft und war in seinen Augen definitiv „marriage material“. Da Lydia viel zu jung war, beschloss Thomas drei Jahre auf sie zu warten und erst dann mit der Brautwerbung zu beginnen. Doch obwohl er auf sie wartete, gelang es ihm nicht, alle Heiratshindernisse aus dem Weg zu räumen. Zwar erwiderte Lydia seine Gefühle, ihre Treffen verheimlichte sie aber vor ihren Eltern – denn die Birkheads waren mit dem potentiellen Schwiegersohn ganz und gar nicht einverstanden. Die genauen Gründe für diese heftige Abneigung verrät uns Thomas in seiner Autobiographie leider nicht. Er selbst hielt sich für einen geeigneten Kandidaten, denn alle wichtigen Voraussetzungen der Zeit waren eigentlich erfüllt. Beide Familien waren von ähnlichem Stand und Status, verfügten also über ähnliche finanzielle Mittel und Bildungshintergründe. Auch in Bezug auf die Religion gab es nur marginale Unterschiede und auch die emotionale Zuneigung war gegeben.

Eine konfliktreiche Ehe
Obwohl im Fall von Thomas und Lydia die familiären und materiellen Voraussetzungen stimmten und es auch nicht an Zuneigung mangelte, weigerten sich Lydias Eltern, einer Hochzeit zuzustimmen, also fassten Thomas und Lydia einen drastischen Entschluss, der weitreichende Folgen haben sollte: sie beschlossen „durchzubrennen“ und in Schottland heimlich zu heiraten. In England war die Zustimmung der Eltern notwendig, um heiraten zu können, in Schottland genügte jedoch das Einverständnis der Eheleute – weshalb zahlreiche junge Paare über die Grenze reisten, um heimlich zu heiraten. Nach einer zweiwöchigen Hochzeitsreise kehrten die Frischvermählten zurück und es begann ein heftiger Konflikt mit den Schwiegereltern, der über 15 Jahre andauerte und selbst mit Lydias Tod nicht endete. Die Ehe der beiden wurde durch diesen Dauerkonflikt stark in Mitleidenschaft gezogen. Die anfängliche Verliebtheit verflog schnell und auch die gemeinsamen Kinder konnten die Ehe nicht kitten. Thomas und Lydia blieben zwar zusammen, litten aber beide unter dem lieblosen und konfliktreichen Familienalltag. Hier zeigt sich, dass das Einvernehmen von Eltern und Familie für eine gelungene Ehe ebenso wichtig waren wie die finanziellen und emotionalen Voraussetzungen.
Ein Neuanfang
Nachdem Lydia im Alter von 30 Jahren starb, lebte Thomas vier Jahre lang als Witwer. Es zeigte sich jedoch schnell, dass er mit seiner neuen Aufgabe völlig überfordert war. Arbeit, Haushalt und Kindererziehung bekam er nicht unter einen Hut – eine Erfahrung, die alleinerziehenden Müttern und Vätern auch heute noch sehr vertraut ist. Seine fünf Kinder brauchten eine neue Mutter, sein Haus war nach dem Tod seiner Frau in völligem Chaos versunken. Thomas gelang es nicht den Haushalt zu führen und in der Auswahl seiner Bediensteten hatte er offensichtlich kein gutes Händchen, denn zwei seiner Mägde begannen ihn zu bestehlen und gaben sogar den eigenen Brüdern Tipps, wo es auf dem Hof etwas zu holen gab. Für Thomas war klar: nur eine Heirat kann dieses Chaos beseitigen. Ein typischer Schritt für einen Witwer der Frühen Neuzeit. Durch Krankheiten, Seuchen, Kriege und hohe Müttersterblichkeit im Kindbett gab es viele junge Witwen und Witwer, die nach der Trauerzeit häufig schnell wieder heirateten. Mehrere Eheschlüsse und Patchwork-Familien mit Kindern aus erster und zweiter waren also überhaupt nicht ungewöhnlich. So machte sich auch Thomas auf die Suche nach einer neuen Frau und hoffte, diesmal eine umsichtigere Wahl zu treffen.
Als Mann in mittleren Jahren und Vater von fünf Kindern empfahlen ihm all seine Freund:innen und Nachbar:innen, eine ältere Witwe zu heiraten. Denn eine solche Frau stünde schon auf eigenen Beinen und brächte Geld mit in die Ehe – was den stets auf wackeligen Beinen stehenden Wrights nicht schaden konnte – und weitere Kinder wären von einer älteren Frau auch nicht mehr zu erwarten. Diese rationalen Vorschläge aus seinem Umfeld nahm Thomas zwar zur Kenntnis, zögerte aber, sie in die Tat umzusetzen. Die Witwen, die er kannte, schienen ihm offensichtlich nicht zu gefallen und auch die wirtschaftlichen Vorteile, die eine solche Ehe für ihn mit sich brächte, konnten ihm die älteren Damen nicht „schmackhaft“ machen. Sein Auge fiel immer wieder auf junge hübsche Frauen in seiner Umgebung. Seinen Entschluss, nach einer jungen Braut zu suchen rechtfertigt er mit der Liebe. Denn wirtschaftliche Überlegungen allein, seien keine gute Grundlage einer Ehe:
„Ich denke, es ist jedermanns Pflicht und Interesse, so viel Reichtum und Bequemlichkeit zu erlangen, wie es ihm aufrichtig und ehrlich möglich ist; doch ich urteile, das Wichtigste ist, ob die Parteien einander um ihrer selbst willen lieben, mit einer Liebe, die von Uneigennützigkeit, Wertschätzung und Zuneigung geprägt ist.“ [1]
Geld oder Liebe?
In der Mitte des 18. Jahrhunderts entflammte eine Debatte um den Verfall der Ehe. Man warf jungen Menschen und ihren Familien vor, ausschließlich aus finanziellen und materiellen Interessen zu heiraten. Der englische Satiriker William Hogarth malte die Eheverhandlungen folglich als Finanzverhandlung und Transaktion.

Auch Thomas Wright kritisierte diese Praxis, wenn er die Uneigennützigkeit betont, die für eine gute Ehe notwendig sei. Neben der Kritik an allein auf finanziellen Nutzen ausgelegten Heiraten häuften sich zeitgleich Berichterstattungen um Skandale und Exzesse sexueller Freizügigkeit der Aristokratie und der Londoner Oberschicht, um Mätressen und Kurtisanen und kursierende Geschlechtskrankheiten. Von vielen Zeitgenoss:innen wurden diese Phänomene als Bedrohung der Ordnung wahrgenommen. Denn die Ehe war ja einer der wichtigsten Grundpfeiler der Gesellschaft, sorgte für Ordnung und Frieden und wies Jedem und Jeder einen Platz in diesem Gefüge zu. In Pamphleten, Satiren und Karikaturen warf man jungen Menschen und ihren Familien vor, nur noch aus materiellem Interesse und Kalkül zu heiraten und alles zu versuchen, um eine möglichst gute Partie zu machen, die der eigenen Familie zu finanziellem und gesellschaftlichem Aufstieg verhilft. In der aktuellen Netflix Serie Bridgerton wird dieses Bild – das natürlich vor allem auf die Oberschicht gerichtet ist – auf die Spitze getrieben: denn dort ist es die Hauptaufgabe der gesamten Familie, für ihre heiratsfähigen Töchter die beste Partie auf dem örtlichen Heiratsmarkt zu ergattern. Doch auch in dieser Serie wird deutlich, dass eine Ehe nur dann erfolgreich und harmonisch verläuft, wenn sich das Ehepaar versteht und mit Zuneigung und Respekt begegnet.
Auch wenn in vielen historischen Romanen, Filmen und Serien das Bild von lieblosen, arrangierten Ehen der Vergangenheit als Negativfolie unserer modernen Vorstellungen der Liebesheirat aufrechterhalten wird, lohnt es sich, genauer hin zu schauen. Zwar wurde die Liebe anders definiert und verstanden als heute, sie war aber dennoch wichtige Voraussetzung und Bestandteil der Ehe. Und die frühneuzeitliche Praktik, Partner:innen mit ähnlichen Vorstellungen und Voraussetzungen von Familie, Bildung und Finanzen zu wählen, ist auch in heutiger Partnerwahl noch ein wichtiger Bestandteil. Obgleich diese Voraussetzungen – zumindest in der westlichen Welt – nur noch selten von Familie und Gesellschaft verpflichtend eingefordert werden, folgt die Partnerwahl häufig immer noch den Prinzipien der Ähnlichkeit und der Komplementarität. Gemeinsamkeiten, ähnliche Lebenswelten und Werte und die Ebenbürtigkeit der Partner:innen werden in Psychologie und Paartherapie immer noch als wichtige Grundpfeiler gelingender Beziehungen hervorgehoben.
Referenzen:
Thomas Wright „Autobiography of Thomas Wright of Birkenshaw in the County of York. 1736-1797. Thomas Wright (Hg.), London 1864.
Titelbild seiner Autobiographie und Bild seines Wohhauses finden sich auf S. 6 und 7 der oben genannten Autobiographie.
Bild: William Hogarth: Marriage a la Mode. The Marriage Settlement, 1743, Wikimedia Commons, https://en.wikipedia.org/wiki/Marriage_A-la-Mode_(Hogarth)#/media/File:Marriage_A-la-Mode_1,_The_Marriage_Settlement_-_William_Hogarth.jpg.
Zum Weiterlesen:
Martin Ingram: Courtship and Marriage 1500-1750. In: Rotledge: History of Sex and the Body, Kapitel 17, London, 2013.
Ingrid H. Tague: Love, Honour and Obedience: Fashionable Women and the Discourse of Marriage in the Early Eighteenth Century, Journal of British Studies Vol. 40. 2001.
[1] Übersetzt aus dem Englischen: „I think it is everyone’s duty and interest to obtain as much wealth and convenience as he fairly and honestly can; yet I judge the matter of greatest moment is, if the parties love each other for their own sakes, with a love of disinterest, esteem and affection.“ (Autobiography of Thomas Wright, S. 145)