Auch wenn viele Menschen glauben, die Liebe wäre ein universales Gefühl und dazu neigen, eigene Erfahrungen und Gefühle auf vergangene Zeit zu projizieren, hat sich die Liebe im Laufe der Geschichte immer wieder verändert und an soziale, politische und ökonomische Gegebenheiten angepasst. Romane, Gedichte und Liebeslieder, aber auch Gerichtsakten, Briefe und Tagebücher aus vergangenen Jahrhunderten erzählen ganz unterschiedliche Geschichten der Liebe und zeigen, wie sich Vorstellungen und Ausdrucksformen der Liebe im Laufe der Geschichte immer wieder verändert haben.
Bevor wir in uns den Liebesgeschichten der Frühen Neuzeit widmen, nehmen wir euch mit auf eine kleine Zeitreise in die Zeit davor.
Was bisher geschah…

Die Geschichten der griechischen Mythologie erzählen von leidenschaftlicher Liebe und ausschweifendem sexuellen Begehren. Zeus verliebte sich in Leda und schwängerte sie indem er die Gestalt eines Schwanes annahm. Ledas Tochter Helena, die schönste Frau auf Erden, war mit König Menelaos verheiratet. Als sich Paris in sie verliebte, entfachte er durch ihre Entführung den Trojanischen Krieg. In diesen Erzählungen ist die Liebe ein starkes und mächtiges Gefühl, das den kühlen Verstand der Liebenden benebeln und zu unüberlegten aber folgenschweren Handlungen führen und sogar Kriege auslösen konnte. Im antiken Rom waren Ehe und Partnerschaft viel pragmatischer konzipiert. Als Ort der Versorgung, der gegenseitigen Unterstützung und der Zeugung von legitimen Nachkommen war die Ehe nicht primär durch Liebe, sondern durch Zusammenhalt und gemeinsam verfolgte sozio-ökonomische Ziele bestimmt. Liebe und Sexualität konnten auch außerhalb der Ehe stattfinden. Geliebte, Mätressen und Konkubinen gehörten ebenso zum römischen Alltag wie die zunehmend häufiger wahrgenommene Möglichkeit der Scheidung und Wiedervermählung.
Im Alten Testament ist die Liebe zu Gott das höchste Gebot: „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (5. Mose 6, 5) Diese Gottesliebe und das aus ihr abgeleitete Gebot der Nächstenliebe bleiben für die gesamten christlich geprägten Jahrhunderte ein zentraler Aspekt der Liebe. Denn eine Missachtung dieser Gebote gefährdete nicht nur das friedliche Zusammenleben der Menschen sondern auch das Seelenheil der Menschen. Moralisches Fehlverhalten führte somit nicht nur zu weltlichen Strafen, sondern hatte auch religiöse Konsequenzen. Auch wenn die Liebe eine zentrale Botschaft des Alten Testamentes ist, bedeutet das keineswegs, dass die biblischen „Liebesgeschichten“ die Liebe als Kern von Partnerschaften und Ehen präsentieren. Denn die Ehe war primär dazu da, Erben zu zeugen, die den Fortbestand der Familie garantierten. Konnte die Ehefrau keine Kinder gebären, konnte diese Aufgabe „ausgelagert“ werden, wie es die Geschichte von Abraham und Sara berichtet. Da Sara und Abraham lange Zeit kinderlos blieben, bat Sara ihren Mann ihre Magd Hagar zur Nebenfrau zu nehmen und sie zu schwängern. Erst nach der Geburt von Hagars Sohn Ismael kam Saras eigener Sohn Isaak zur Welt. (1. Mose 16)

Starb ein Ehemann bevor ein Nachkomme gezeugt werden konnte, so galt im alten Israel die Leviratsehe. Die Brüder des verstorbenen Mannes waren dazu verpflichtet, die Witwe ihres Bruders zu heiraten und ein Kind mit ihr zu zeugen. Die Geschichte Tamars (1. Mose 38) erzählt von ihren Versuchen, diese Leviratsehe einzufordern. Als der erste Bruder ihres verstorbenen Mannes sich weigerte, sie zu schwängern und seinen Samen auf den Boden fallen ließ (sein Name Onan wurde deshalb zum Namensgeber der „Onanie“) und ihr Schwiegervater Juda sich weigerte, ihr nach Onans Tot seinen jüngsten Sohn als Ehemann zu geben, verführte Tamar – als Prostituierte verkleidet – ihren Schwiegervater und kam so zu dem ihr zustehenden Erben. Die Zeugung legitimer Erben und die Versorgung der Frau stehen also im Fokus dieser Geschichte. Leidenschaftliche Liebe erscheint im Alten Testament in der Gestalt der Begierde – etwa als König David sich in die verheiratete Bathseba verliebte und ihrem Mann zum Sterben in die Schlacht ziehen ließ, um sie zu seiner achten (!) Ehefrau nehmen zu können. (2. Samuel 11).
Im Neuen Testament wird Tamar als eine der wenigen weiblichen Vorfahrinnen im Stammbaum Jesu angeführt. Nichtsdestotrotz wurden christliche Liebes- und Ehevorstellungen nicht so sehr von den pragmatischen Erzählungen des Alten Testaments geprägt, wie durch Paulus Reden über die Ehe. In der Erwartung des baldigen Weltendes und Anbruchs des Reich Gottes hielt Paulus die Ehe für unwichtig – sie hatte also keine Priorität. In den folgenden Jahrhunderten wurden Paulus Aussagen von ihrem Kontext losgelöst und zu einer Idealisierung der Ehelosigkeit und einer negativen Sicht auf Körperlichkeit und Sexualität umgedeutet. Das ehelose, zölibatäre Leben der Mönche und Nonnen wurde zum Ideal erhoben. Gleichzeitig waren die mittelalterlichen Formen der Liebe aber durchaus vielfältiger als die christliche Tradition vermuten lassen könnte.

Denn die mittelalterlichen Liebesgeschichten zeigen viele Formen und Facetten der Liebe. Im Minnesang wurde die Liebe zu einer schönen Frau besungen, die in der „hohen Minne“ stets von hohem Stand war und für den verliebten Sänger immer unerreicht bleiben musste. Die Liebe wurde also nicht erwidert und blieb unerfüllt. In den Liedern der „niederen Minne“ fand die Liebe dahingegen Erfüllung, allerdings keineswegs in Form eines Eheschlusses. Denn die Ehe war auch hier nicht der Raum der Liebe, sondern die romantische und sexuelle Begegnung mit einer schönen jungen Frau.
Die Liebesgeschichten der Antike und des Mittelalters, die hier nur in kleinen Ausschnitten vorgestellt wurden, zeigen deutlich, dass die romantische Liebe im Laufe der Geschichte viel komplexer, vielschichtiger und facettenreicher war, als viele Geschichtsdarstellungen – besonders aus dem 19. Jahrhundert – uns glauben machen wollten. Denn in diesen Darstellungen wurde das Idealbild der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhundert als „Gipfel des Fortschritts“ verstanden und als Maßstab an vorherige Zeiten angelegt. Ob und wie die hier vorgestellten Traditionslinien in der Frühen Neuzeit fortgeführt oder verändert wurde, erfahrt ihr in den folgenden Beiträgen unseren Themenblocks #Liebe. Darin nehmen wir ganz unterschiedliche Liebesgeschichten in den Blick und schauen uns neben der romantischen Liebe auch andere Formen der Liebe wie Freundschaft und Gottesliebe an, um herauszufinden, wie die Menschen der Frühen Neuzeit geliebt haben, wie sie empfanden, was sie über die Liebe dachten und mit welchen Begriffen, Gesten und Ritualen sie diese Liebe ausdrückten. Wie hat sich die Liebe verändert? Und was kommt uns auch heute noch vertraut vor?
Zum Weiterhören
BBC Podcast: In Our Time History. Episode Marriage https://www.bbc.co.uk/sounds/play/p00548c2
Referenzen
Lutherbibel
Bild: Leda und der Schwan, Kopie des verloren gegangenen Gemäldes von Michelangelo, nach 1530. Wikimedia Commons https://de.wikipedia.org/wiki/Leda_(Mythologie)#/media/Datei:Leda_-_after_Michelangelo_Buonarroti.jpg
Bild: Rembrand van Rijn: Juda und Tamar um 1650. Wikimedia Commons https://de.wikipedia.org/wiki/Tamar_(biblische_Person)#/media/Datei:Rembrandt’s_school_Tamar.JPG
Bild: Minnesänger überreicht seiner Geliebten ein Gedicht. Codex Menasse. um 1315. Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Codex_Manesse-Minnes%C3%A4nger_1.jpg