„Die Geschichte der Liebe ist die Geschichte der Menschheit, der Zivilisation.“ 1
So formulierte es der deutsche Mediziner, Sexualforscher und Begründer der Sexualwissenschaft Iwan Bloch (1872-1922), der die These vertrat, dass die europäische Geschichte erst durch die Erforschung von Liebe und Sexualität verstanden werden könnte. Denn Liebe und Sexualität seien zentrale Elemente des menschlichen Lebens, die viel über die Mentalität der Menschen verraten, aber auch über die gesellschaftlichen Strukturen, die den Rahmen für die Auslebung von Liebe und Sexualität absteckten. Denn Vorstellungen und Ausdrucksformen der Liebe sind und waren nie losgelöst von ihrer Umgebung. Die Gesellschaft, die uns umgibt, prägt und beeinflusst unser Wissen, unsere Vorstellungen und Ideale von der Liebe und sie gibt den Rahmen vor, in dem die Liebe ausgelebt werden darf.
Bevor wir in den nächsten Beiträgen unseres Themenblocks #Liebe ganz unterschiedliche Geschichte(n) der Liebe, erkunden, starten wir mit dem Blick auf unsere eigene Gegenwart.
- Was ist Liebe?
- Welche Fragen rund um Liebe, Sexualität und Partnerschaft werden aktuell debattiert?
- Und was verraten diese Diskurse über unsere Gesellschaft?
Was ist Liebe?
Ist die Liebe ein universelles Gefühl oder ein historisch gewachsenes Konstrukt? Auch wenn viele Menschen glauben, die Liebe wäre ein universales Gefühl, haben sich die Vorstellungen, Formen und Ausdrucksformen der Liebe im Laufe der Geschichte immer wieder verändert und an soziale, politische und ökonomische Gegebenheiten angepasst. Bei dem Wort Liebe denken die meisten Menschen heute vermutlich zuerst an die romantische, partnerschaftliche Liebe, denn sie ist medial omnipräsent. Diese Engführung der Liebe drängt viele Formen der Liebe in den Hintergrund, die im Laufe der Geschichte oft sogar bedeutsamer waren als die partnerschaftliche Liebe: die Liebe zwischen Eltern und Kindern, die freundschaftliche Liebe, die Liebe zwischen Staaten, Herrschern und Untertanen und die für die Frühe Neuzeit zentrale Liebe zu und von Gott. Liebe hat und hatte also viele Formen. In den Blogbeiträgen unserer Reihe #Liebe werden wir diese genauer unter die Lupe nehmen.
Liebe & Gesellschaft
Recherchiert man das Thema #Liebe in den Medien, den sozialen Netzwerken und der Popkultur wird schnell deutlich, dass Diskussionen um die Liebe ebenso vielfältig und plural sind wie die Gesellschaft, in der wir leben. Da am Thema Liebe auch politische und religiöse Überzeugungen ganz konkret verhandelt werden, haben verschiedene Gruppierungen ganz unterschiedliche Forderungen und Maßstäbe an die Liebe. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte waren Partnerwahl und Liebe durch eine Vielzahl an Regeln und Bedingungen eingeschränkt: Geschlecht, Religionszugehörigkeit, gesellschaftliche Klasse, Vermögen, Alter, das Einvernehmen der Eltern oder der Dienstherren…. All diese Voraussetzungen mussten erfüllt sein, um heiraten zu können. Und die Ehe war seit der Reformation der einzige Ort, an dem Sexualität legitim gelebt werden durfte. Liebe war also lange Zeit nur in ganz bestimmten Formen sozial und juristisch erlaubt. Erst im 20. Jahrhundert wurden einige dieser Heiratshindernisse langsam durchlässiger, auch wenn die soziale Kontrolle besonders in der ländlichen Gesellschaft bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Einhaltung der Normen überwachte und kontrollierte. Erst die 1968er Bewegung löste eine „sexuelle Revolution“ aus, stellte traditionelle Modelle der Liebe in Frage und lebte ein neues Ideal der „Freien Liebe“. Homosexuelle Liebe wurde in Deutschland erst in den 1970er Jahren legalisiert, vollständig abgeschafft wurde der „Paragraph 175“, der die juristische Grundlage der strafrechtlichen Verfolgung, Inhaftierung und – in der NS-Zeit die Deportation und Ermordung – von Homosexuellen bildete, erst im Jahr 1994. Der juristische Rahmen hat die Partnerwahl und die Auslebung unterschiedlicher Formen der Liebe inzwischen nach langem historischem Ringen zwar weitestgehend liberalisiert, Gewalt und Diskriminierung bestehen aber weiterhin fort. Aus feministischer Perspektive werden Macht- und Gewaltverhältnisse in Partnerschaften offengelegt. LGBTIQ- Bewegungen kämpfen weiterhin gegen unterschiedliche Formen der Diskriminierung und Gewalt und setzen sich für die Rechte von queeren und inter- oder transsexuellen Menschen ein. Auch der aktuelle Rassismus-Diskurs greift das Thema Liebe auf, um rassistische Vorurteile im Kontext von Partnerwahl oder im Umgang mit diversen Familien sichtbar zu machen.
Während die Auslebung von Liebe auf der einen Seite immer freier wird, werden zeitgleich auch die Stimmen lauter, die den Status Quo und die Ordnung der Gesellschaft durch eine Liberalisierung der Liebe gefährdet sehen. Am Thema Liebe treffen also ganz unterschiedliche politische Lager aufeinander. Während Heteronormativität und Monogamie vom linken Spektrum in Frage gestellt und durch Beziehungsformen wie offene Beziehungen, Gelegenheitssex, Freundschaft Plus, Polyamorie2 oder Co-Parenting3 ersetzt werden, verteidigen Konservative und Rechte die „klassische“ Kernfamilie bestehend aus „Vater, Mutter, Kind(er)“, beklagen hohe Scheidungsraten, öffentliche und mediale Darstellungen von Promiskuität und lehnen nicht-heteronormative Partnerschaften ab. Die Freiheit, die in Bezug auf Liebe und Partnerwahl im letzten Jahrhundert erkämpft wurde, wird also immer noch und immer wieder zur Angriffsfläche. Denn die Frage „Wie wollen wir lieben?“ ist untrennbar verbunden mit der Frage „In was für einer Gesellschaft möchten wir leben?“
In unseren Beiträgen zum Thema #Liebe werden wir die Geschichte(n) der Liebe unter die Lupe nehmen, um dieses Verhältnis von Liebe und Gesellschaft auszuloten.
- Welche Vorstellungen und Formen der Liebe gab es?
- Wie wurde die Liebe gelebt, ausgedrückt und empfunden?
- Und was verraten uns diese Liebesgeschichten über die Gesellschaft, in der sie sich ereigneten?
Referenzen
- Iwan Bloch: Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur. Berlin, 1907. Zitiert nach Sarah Toulailan/Kate Fisher: The Routledge History of Sex and the Body, London 2013, S. 1.
- Polyamorie bezeichnet ein Beziehungsmodell, in dem eine Person (im Einvernehmen aller Beteiligten) Liebesbeziehungen zu mehreren Partner:innen führt.
- Co-Parenting ist ein Modell, indem sich zwei Erwachsene zusammenschließen, um gemeinsam ein Kind zu bekommen und zu erziehen, ohne dabei eine Partnerschaft einzugehen.