Max und Katharina haben euch bereits in die Weiten des historischen Forschens mitgenommen. Sei es ein Puzzleteil oder eine Unbekannte, zentral in unserer Arbeit ist immer die Suche, könnte man vielleicht sagen. Die Spurensuche.
Mit jedem Namen, der in den Quellen erscheint, jedem beschriebenen Ereignis, ja sogar mit jedem geschriebenen Buchstaben haben Menschen ihre Spuren hinterlassen. Die Aufgabe der Historiker*Innen ist es, mit Hilfe dieser Spuren dem Vergangenen nachzugehen und das, was wir in den historischen Dokumenten lesen, in die Geschichte einzuordnen.
Die Spurensuche beginnt bereits bei der Recherche der Quellen. „Da müsste es doch bestimmt ein Dokument zu geben“, denke ich mir und fange mit dem Stöbern an. Ist das passende Dokument gefunden, fängt die Arbeit erst richtig an. Der erste Schritt ist das Entziffern der alten (Hand-)schriften, oder Transkribieren, wie man in der Geschichtswissenschaft sagt. Die Handschriften der Frühen Neuzeit sind nicht ganz einfach zu lesen, viele Buchstaben sehen sehr anders aus, als wir sie heute kennen. Immer wieder sind zudem einzelne Wörter oder ganze Sätze durchgestrichen und durch Änderungen ergänzt, kleinste Kommentare zieren den Rand des Dokuments, kryptische Zeichen scheinen Abkürzungen für verschiedenste Wörter zu sein oder es finden sich mitten im Text große Löcher im Papier. Bis man den Inhalt der Quelle vollständig erschlossen hat, vergehen nicht selten Stunden, sondern Tage. Danach beginnt die inhaltliche Arbeit. Schauen wir uns vielleicht mal ein Beispiel genauer an: 1553 verstarb die Ehefrau des Frankfurter Bürgers Philipp Schirlitz, kurz nachdem er auf sie eingeschlagen hatte. Schirlitz, der in dem Prozess als Verdächtiger erscheint, gab in dem Verhör an, der Tod seiner Frau sei eine Folge ihrer Alkoholsucht und weiterer Vorerkrankungen gewesen. Zwei akademische Ärzte und vier Barbiermeister wurden angewiesen, den Leichnam zu untersuchen, um die Aussagen des Verdächtigen zu prüfen. Zwar konnten die sechs Heilkundigen die Schläge nicht eindeutig als tödlich identifizieren, jedoch fanden sie auch keine weiteren Verletzungen oder Krankheiten, die als Todesursache in Frage kamen. Zudem sagten sie aus, der Mageninhalt der Verstorbenen sei noch unverdaut gewesen, weshalb sie davon ausgingen, dass die Frau direkt nach der Tat verstorben war. Das Gericht scheint dem Gutachten gefolgt zu sein und verurteilte den Beschuldigten zum Tode.[1] Der Fall scheint an dieser Stelle geklärt zu sein. Der Täter ist identifiziert, der Tathergang rekonstruiert. Meine Fragen sind aber noch längst nicht geklärt. Mich interessiert, wie die Zusammenarbeit der eigentlich konkurrierenden Ärzte und Barbiere funktioniert hat. Wer übernahm welche Aufgaben während der Obduktion? Da in der Forschungsliteratur nur sehr wenige Hinweise auf Obduktionen zu finden sind, die bereits im 16. Jahrhundert stattfanden, frage ich mich auch: Wurden die Leichname in Frankfurt bei ungeklärten Tötungsdelikten regelmäßig obduziert? Nahm Frankfurt im deutschsprachigen Raum gar eine Vorreiterposition in der Gerichtsmedizin ein? Natürlich versuche ich aber auch zu ergründen, wer Philipp Schirlitz war? Wer seine Frau war? Wie lebten sie? Was fühlten sie? Wie sah ihr Leben aus?
Und dann erwachen sie in mir: Die Miss Marple der geschlossenen Akten, der Sherlock Holmes der verstaubten Bücher, die Phryne Fischer der verstummten Zeugen. Meine Augen kneifen sich zusammen, der Kopf fängt an zu rauchen, die Wangen glühen auf und plötzlich öffnet sich vor mir der rote Vorhang, hinter dem die schönsten Liebesgeschichten spielen und schlimmsten Verbrechen lauern. Jedes Teil der Geschichte ein eigenes, neues kniffliges Rätsel, was gelöst werden will. Ich knipse meine Taschenlampe an und los geht die Suche. Mal erscheint im Lichtkegel ein neues Dokument, mal eine gute Idee, eine wichtige Person oder ein geschichtswissenschaftlicher Aufsatz, der einige meiner Fragen beantwortet. Auf dem inneren Whiteboard tauchen immer mehr Personen und Informationsfetzen auf, manche bekannt, manche unbekannt. Ständig kann ich Fakten ergänzen und den Faden, der alles miteinander verbindet, weiterspinnen. Manchmal lassen sich die Gedanken und Ideen gar nicht so schnell aufschreiben, wie sie auf mich einprasseln. An anderer Stelle grübele ich stundenlang vor mich hin und komme doch zu keinem Ergebnis. Aber auch wenn mit jedem gelösten Rätsel ein neues ungelöstes hinzukommt, nimmt der Fall mehr und mehr Gestalt an. Langsam verschmelzen die Lichtkegel meiner Taschenlampe miteinander und vor meinem inneren Auge entsteht ein immer vollständigeres Bild. Gestochen scharf und ohne dunkle Flecken wird es aber nie sein. Einerseits, weil die Quellen viele Teile der Geschichte auslassen, nicht alles wurde aufgeschrieben und nicht alles, was aufgeschrieben wurde, hat die Jahrhunderte überdauert. Auch gibt es unterschiedliche Personengruppen, die in den Quellen nur selten selbst sprechen, wie beispielsweise Frauen oder fahrende Leute. Ihre Perspektive fehlt. Andererseits versteht und liest jeder die beschriebenen Ereignisse anders, eingeschlossen die frühneuzeitlichen Protagonist*Innen selbst. Anders als Sherlock Holmes werde ich meine Fälle also nie vollständig aufklären können. Manchmal ist das ein wenig frustrierend aber eigentlich macht genau das die Geschichtswissenschaft so unendlich spannend und herausfordernd!
[1] Dieter Emrich: Rechtsmedizinische Sachverständigentätigkeit in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert. Diss., Frankfurt am Main 1990, S. 43-48.