
An die fehlenden Puzzleteile kann ich direkt anschließen, auch wenn ich eher von unbekannten Variablen in einer Gleichung namens „Doktorarbeit“ sprechen würde – denn anders als bei Puzzlen, die grundsätzlich lösbar sind, gibt es in mathematischen Gleichungen mitunter Unbekannte, für die es keinen Zahlenwert gibt, die die Gleichung lösbar machen.
Ein Beispiel aus meiner Doktorarbeit
Ich beschäftige mich in meiner Doktorarbeit mit der Rekonstruktion von medialen Friedensvorstellungen im 18. Jahrhundert anhand periodischer Medien (vorwiegend Zeitungen). Für eine angemessene Kontextualisierung dieser Vorstellungen sind die Autoren essenziell und gerade kultur- und sozialgeschichtliche Untersuchungen nehmen die Rolle von Akteuren sehr ernst, weil sie die Frage beantworten helfen, woher die Vorstellungen stammen und welcher Werte- und Normenhorizont diesen zugrunde liegen. Genau hier liegt aber das Problem, denn die Bezeichnung „unbekannte Variable“ kann man in meinem Fall wörtlich nehmen und betrifft die vielfach unbekannte Autorenschaft meiner Quellen. Während die Herausgeber und Verleger von Zeitungen und Journalen überwiegend bekannt sind, blieben die Journalisten meist im Verborgenen. Dies liegt in erster Linie daran, dass die Berufsbezeichnung „Journalist*In“ im 18. Jahrhundert noch nicht existierte und somit auch niemand dieser Berufsgruppe als solcher bei den genannten „Medienunternehmen“ angestellt war. Die mediale Informationsbeschaffung lief überwiegend über Informanten, die hauptberuflich etwas ganz Anderes machten und dementsprechend nicht als „Medienschaffende“ in Erscheinung traten. Auch über sie ist nur sehr wenig bekannt – es ist aber anzunehmen, dass die meisten im politischen Milieu (Höfische Gesellschaft, Verwaltung, Militär etc.) tätig waren, weil politisch-militärische Nachrichten den Großteil der Berichterstattung ausmachten. Außerdem waren Zeitungen als erstes Massenmedium der Neuzeit preisgünstig zu erwerben und wurden in der Regel nicht aufbewahrt, was die Nachvollziehbarkeit von Autoren umso schwerer macht.
Dieser Nachteil hat dazu geführt, dass Historiker*Innen sich in der Vergangenheit vermehrt Mediengattungen zugewendet haben, deren Autoren bekannt sind. Hier nimmt die Flugpublizistik den größten Raum ein, also eine oder mehrere Seiten umfassende, meist illustrierte Schriften, die in großer Stückzahl anlässlich bedeutender Ereignisse in Umlauf gebracht wurden. Zwar kam es auch hier oft vor, dass Autoren ihre Identität hinter Pseudonymen verbargen, aber weil es sich bei solchen Schriften in vielen Fällen um Auftragsarbeiten handelte, fällt es leichter über die Auftraggeber die wahre Identität der Autoren zu rekonstruieren. Zudem handelt es sich bei der Flugpublizistik, anders als bei Zeitungen, um eine sehr meinungsstarke Mediengattung, was der Fragestellung nach Friedensvorstellungen entgegenkommt.
Trotz allem wäre es eine unzulässige Wissensverkürzung, bei der historischen Rekonstruktion von Friedenswissen und Friedensvorstellungen ein Medium wie die Zeitung außen vor zu lassen, die so intensiv über Frieden und damit zusammenhängende Ereignisse berichtete wie kaum eine andere Mediengattung. Eine einfache, solutionistische Lösung gibt es für das Autorenproblem zwar nicht – was nicht überliefert ist, lässt sich nicht rekonstruieren! – aber wir sind nicht völlig hilflos, es braucht nur kreative Lösungen. Ein Beispiel: Wir wissen, dass Zeitungen von einer Vielzahl politischer Akteure gelesen wurden, weil sie darüber in Tagebüchern oder Brief-Korrespondenzen berichteten. Hierüber ließe sich herausfinden, ob sie möglicherweise selbst als Informanten tätig waren oder Akteure aus ihrem Umfeld damit beauftragten – kurzum: Es wäre ratsam, nach Rezeptionsspuren von Zeitungen in privaten Quellen zu suchen, um ans Ziel zu kommen und auch wenn es keine Garantie gibt, etwas Brauchbares zu finden, ist es ein möglicher Weg, um zumindest eine Variable von vielen in der Gleichung „Doktorarbeit“ zu lösen.