Wenn man schon ein bisschen länger an seiner Doktorarbeit sitzt, kommt es einem nicht selten vor, als säße man vor einem riesigen Puzzle. Die unzähligen Bücher, Aufsätze, Rezensionen, Quellen, Gerichtsakten und Tagebücher sind die Puzzleteile, die ich im Laufe meiner Arbeit gefunden und zusammen getragen habe. Die will ich zu einem großen Bild zusammen puzzeln. Aber wie? Die Vielzahl der Teile erschlägt einen manchmal und die einzelnen Puzzleteile sehen sich viel zu ähnlich. Außerdem gibt es keine Verpackung, auf der das fertige Bild schon zu erkennen wäre. Denn das ist ja die Aufgabe einer Doktorarbeit. Aus eigener Recherche ein Thema neu erschließen oder aus einer neuen Perspektive zu hinterfragen und es dann in das große Puzzle der Geschichtsforschung einzugliedern, um es zu erweitern.
Sobald man das anfängliche Gefühl der Überwältigung und des Chaos‚ hinter sich gelassen und einfach losgelegt hat, ist man schnell im Puzzeln versunken. Man findet spannende und manchmal sogar perfekt zusammenpassende Teile. Langsam lassen sich Formen, Farben, sogar Gegenstände oder Landschaften erkennen. Und ab und zu steht einem das fertige Bild für einen kurzen Moment vor Augen. Man kann sich vorstellen, wie es einmal aussehen wird. Und dann kommt der Moment, an dem man realisiert, dass Teile des Puzzles fehlen…

Beim Puzzeln ist dieser Moment extrem frustrierend. Als Kind hätte ich das unvollständige Puzzle vermutlich wütend zerstört und in die Ecke befördert. Beim Geschichte-Puzzeln ist einem dieser Moment leider viel zu vertraut, denn er gehört quasi zum Geschäft.
Ein Beispiel aus meiner Doktorarbeit:
Ich forsche zu Konflikten und unterschiedlichen Lösungsstrategien der Konfliktaushandlung innerhalb einer Community. Die Gerichtsakten, die von solchen Konflikte berichten, verraten mir, wer in den Konflikt verwickelt war, worum genau es ging und welche Versuche bereits unternommen wurden, um den Streit zu beheben. Und dann brechen die Aufzeichnungen plötzlich ab. Es gibt kein Urteil, kein Dokument, das für die Nachwelt festhält, wie der Konflikt ausgegangen ist. Denn ein Großteil der Prozesse, die vor den lokalen Gerichten verhandelt wurden, brechen vor der Urteilsverkündung ab. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben – in der Forschung wird aber zumeist davon ausgegangen, dass sich die Streitparteien während des Prozesses einigen konnte und der Konflikt somit außerhalb des Gerichtes geschlichtet werden konnte. Ich erfahre also nicht, wie sich die Personen geeinigt haben, wer dabei vermittelt hat und ob der Konflikt dauerhaft und nachhaltig gelöst werden konnte. Aber ich weiß dadurch immerhin, dass außergerichtliche Einigungen keine Seltenheit waren und dass die Mediation von Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn offensichtlich erfolgreich war.
Manchmal stößt man also auf Lücken im Puzzle wenn man passende Quellen findet, aber aus ihnen nicht das erfährt, was man gerne wissen möchte. Das passiert bei meinem Forschungsprojekt nicht nur in den Gerichtsakten, sondern auch in Tagebüchern. Denn wenn Menschen der Frühen Neuzeit aus ihrem Alltag berichten, dann schweigen sie häufig über genau die Aspekte, die uns heute besonders interessieren. In den Tagebüchern der Frühen Neuzeit findet man zum Beispiel nur selten Spuren von Emotionen oder eigenen Gedanken und Reflexionen. Die Tagebücher waren zu dieser Zeit eher Chroniken, in der wichtige Ereignisse, Geschäfte oder landwirtschaftliche Aufgaben festgehalten wurden. Wenn der Tagebuchschreiber also einen heftigen Ehestreit erwähnt, erfahren wir nicht unbedingt, was in ihm vorgeht. Manche Puzzleteile sind also zwar vorhanden, geben uns aber nur ganz bestimmte Informationen, während andere im Verborgenen bleiben – etwa so als zeigten sie den Gegenstand, nicht aber seine Farbe.
Darüber hinaus gibt es aber auch ganze Personengruppen, die keine oder kaum Spuren hinterlassen haben. Ihre Puzzleteile sind besonders schwer zu finden. Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten, Randgruppen und Minderheiten, aber auch Frauen und Kinder haben lange Zeit in den schriftlichen Quellen überhaupt keine Spuren hinterlassen. Weil sie nicht lesen und schreiben konnten und weil ihre Stimmen und Perspektiven von denen, die Geschichte(n) aufgeschrieben haben, für nicht wichtig genug erachtet wurden. In der Forschung werden sie deshalb als „silent masses“ bezeichnet. Wenn man ihre Stimmen überhaupt findet, dann nur zwischen den Zeilen und oft verzerrt durch die Wortwahl derjenigen, die über sie geschrieben haben. Diese Puzzleteile sind also äußerst selten. Die Quellen, die wir suchen und bräuchten, um das Bild zu vervollständigen, fehlen. Die Lücke bleibt offen und wird erst einmal – vielleicht aber sogar für immer – offen bleiben. Das ist oft frustrierend, aber leider eine alltägliche Erfahrung.
Heißt das nun, unsere Puzzle-Arbeit war vergebens? Nein, das heißt es nicht. Denn auch wenn es manchmal ganz schön frustrierend sein kann, zeigt uns die Geschichte so immer wieder, dass sie selbst ein Puzzle mit fehlenden Teilen ist und immer bleiben wird. Wir können durch unsere Arbeit einzelne Stellen zusammen puzzeln, Geschichten rekonstruieren, Bilder zusammenfügen und einige kleinere oder größere Rätsel lösen. Das große ganze Bild lässt sich aber nie vervollständigen. Wir können uns ihm nur annähern und lernen, mit den offenen Fragen, mit den Lücken zu leben.