Was empfinden wir, wenn wir verliebt sind? Wie fühlen sich Neugier, Überraschung oder Langeweile an? Und wie geht es uns, wenn wir trauern, ängstlich oder wütend sind?
Den meisten wird es nicht schwer fallen, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Weil wir mit diesen Emotionen aus unserem eigenen Leben vertraut sind, glauben wir zu wissen, was Menschen in diesen Gefühlszuständen empfinden. Auch die Ausdrücke dieser Emotionen können wir lesen. Wie erkennen, wenn jemand wütend, glücklich oder frisch verliebt ist. Deshalb können wir uns mit Geschichten über Emotionen meist gut identifizieren, denn sie haben einen Bezug zu unserer eigenen Lebenswelt.

Obwohl wir eigentlich wissen, dass Menschen sehr verschieden sind und somit auch ganz unterschiedlich mit ihren Gefühlen umgehen können, neigen wir oft reflexartig dazu, von uns auf Andere zu schließen – nicht nur in Bezug auf unsere Mitmenschen, sondern auch in Bezug auf Menschen in der Vergangenheit. Lesen wir von Liebe, Wut oder Trauer ruft das automatisch unser Wissen und unsere ganz persönlichen Erfahrungen in uns wach. Dadurch können wir uns besonders gut in vergangene Erfahrungen hinein versetzen. Wir fühlen mit historischen Personen, weil uns ihre Erfahrungen bekannt und sehr vertraut vorkommen. Schließlich waren wir auch schon einmal verliebt oder haben einen geliebten Menschen verloren und um ihn getrauert. Doch genau in dieser Chance der Emotionen als Anknüpfungspunkt, liegt auch ihre Tücke. Denn indem wir unsere Emotionen auf die Vergangenheit übertragen, projizieren wir unsere Vorstellungen auf die Vergangenheit.
Kognitionsforscher*Innen haben herausgefunden, dass Emotionen nicht nur biologisch – also z.B. durch unseren Körper und unsere Gene – bestimmt werden, sondern auch durch unser Umfeld, also die Kultur, Sprache, Erziehung und das Wertesystem, in dem wir aufwachsen. Damit unterliegen Emotionen dem kulturellen Wandel. Emotionen haben also eine Geschichte. Sie sind im Laufe der Geschichte entstanden, haben sich verändert oder andere Zuschreibungen erhalten. Schon die Verwendung des Wortes „Gefühl“ unterschied sich bis zum 18. Jahrhundert von der unsrigen. In Johann Heinrich Zedlers berühmten Universallexikon definierte man „Fühlen, Gefühl“ noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts als „einen der fünf äußerlichen Sinne, der sich über den ganzen Leib ausbreitet“- das Wort Gefühl beschrieb also ausschließlich den Tastsinn. Emotionen wie Liebe oder Trauer wurden mit Begriffen wie Gemüt, Gemütsneigung oder Gemütsbewegung bezeichnet.1
Wenn sich schon die Namen unterscheiden, mit denen über Gefühle gesprochen wurde, so trifft das erst recht auf ihre Bedeutungen und Ausdrucksformen zu. Um die Historizität von Gefühlen zu illustrieren, erzählt die britische Sozialforscherin Tiffany Watt Smith in ihrem „Ted-Talk“ zur Geschichte der Emotionen (unten verlinkt) von einem jungen Engländer, der im 17. Jahrhundert in Basel studierte. Er wurde so krank, dass seine Freunde und die örtlichen Ärzte sich ernsthafte Sorgen um seine Gesundheit machten. Da sie die Krankheit nicht diagnostizieren konnten und keine Aussicht auf Besserung bestand, beschlossen die Ärzte den jungen Mann nach Hause zu schicken, damit er im Kreis seiner Familie sterben konnte. Schon auf der Heimreise besserte sich sein Zustand rapide. Als er in seinem Heimatort ankam, war er zum großen Erstaunen Aller vollständig genesen. Das Heimweh hatte dem jungen Studenten so zugesetzt, dass er psychische und körperliche Symptome entwickelte. Die Krankheit, die der Arzt Johannes Hofer 1688 „Nostalgie“ taufte, wurde noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als ernstzunehmende Krankheit diagnostiziert und therapiert.2 Auch heute gibt es ähnliche Phänomene, wie etwa das medizinisch als Krankheit anerkannte „Broken Heart Syndrome“, bei dem Menschen in akuten Stresssituationen Symptome zeigen, die denen eines Herzinfarktes ähneln.3 Heute hat sich nicht nur die Bedeutung des Wortes Nostalgie verändert, die jetzt eher die Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit als nach einem vertrauten Ort bezeichnet, sondern auch die Bedeutung, die wir dem Heimweh beimessen. Das Gefühl Heimweh und seine Ausdrucksformen hat sich durch Veränderungen der Mobilität, des Reisens aber auch der Telekommunikation gewandelt und stößt in unserer Gegenwart bei Erwachsenen oft auf wenig Verständnis. Emotionen unterliegen also dem geschichtlichen Wandel. Veränderungen in Gesellschaft, Politik, Religion, Sprache, Technik oder Wirtschaft, prägen auch das Wertesystem der Menschen und haben dadurch einen unmittelbaren Einfluss auf die Wahrnehmungen und Gefühle der Menschen. Und dieser Wandel ist keineswegs abgeschlossen.
Dass Emotionen nicht nur neurowissenschaftlich oder anthropologisch, sondern auch historisch erforscht werden, ist dem französischen Pionier der Sozialgeschichte Lucien Febvre (1878-1956) zu verdanken. Er veröffentlichte 1941 den Aufsatz „Sensibilität und Geschichte: Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen“,4 in dem er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erforschung von Gefühlen hielt, weil wir über sie viel über das Denken und Fühlen, aber auch über Werte, Identitäten und Mentalitäten erfahren könnten. Er warnte aber auch davor, gegenwärtige Vorstellungen und Erfahrungen von Gefühlen auf die Geschichte zu übertragen. Am Beispiel eines Buches über die Kunst zu Sterben schlussfolgerte Febvre: „Nicht einmal 300 Jahre sind vergangen; aber welch ein Abgrund zwischen den Sitten und Gefühlen der Menschen jener Zeit und den unsrigen.“5 In einer Zeit, in der die Religion ein fester, weitestgehend unangezweifelter Grundstein des Lebens war, spendete die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Trost, nahm Ängste und führte zu einer anderen Wahrnehmung des Todes. Außerdem war der Tod durch Krankheiten, Seuchen, Kriege und sehr hohe (Kinder-)Sterblichkeit allgegenwärtig, weshalb die Menschen sich häufiger mit ihm auseinandersetzen mussten. Der Umgang mit Tod und Trauer war also zwangsläufig ein anderer als in unserer säkularen Gegenwart.6
Ohne die Gefühle und ihre Ausdrucksformen losgelöst von unseren eigenen subjektiven Erfahrungen der Gegenwart zu erforschen, können wir nicht verstehen, was die Menschen der Vergangenheit empfanden, wenn in den Quellen von Liebe, Hass, Wut, Freude oder Trauer die Rede ist. Erst wenn wir versuchen, diese Gefühle aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, können wir sie rekonstruieren. In unserem Themenblock „Emotionen“ wollen wir unterschiedliche Emotionen genauer unter die Lupe nehmen, um herauszufinden, wie die Menschen der Frühen Neuzeit gedacht, gefühlt und gehandelt haben.
Zum Weiterlesen:
Jan Plamper: The History of Emotions: An Interview with William Reddy, Barbara Rosenwein and Peter Stearns, In: History And Theory, May 2010, Vol. 49, No. 2 S. 237-265.
Blog und Podcast des Forschungszentrums „The History of Emotions“ des Queen Mary University of London. Blog:https://emotionsblog.history.qmul.ac.uk/ Podcasts: https://www.listennotes.com/podcasts/queen-mary-history-of-emotions-the-centre-ExQ6oZH0ygR/
History of Emotions Blog. From Early Modern Europe to Contemporary Australia des Forschungszentrums „Australian Research Council’s Centre of Excellence for the History of Emotions.“ https://historiesofemotion.com/
TED Talk „The history of human emotions“ von Tiffany Watt Smith (2017): https://www.youtube.com/watch?v=S-3qnZrVy9o
Referenzen
1. Artikel „Fühlen, Gefühl“, in: Zedlers Universallexikon, Band 9, 1735, Spalte 2225–2232.
2. Karl-Heinz Gerschmann: Johannes Hofers Dissertation „De Nostalgia“ von 1688Archiv für Begriffsgeschichte, Vol. 19 (1975), S. 83-88.S. 84.
3. Ilan Shor Wittstein, M.D. Art. Broken Heart Syndrome. Johnshopkins Medicine Online. https://www.hopkinsmedicine.org/health/conditions-and-diseases/broken-heart-syndrome (Zugriff 28.01.2021)
4. Lucien Febvre, La sensibilité et l’histoire: Comment reconstituer la vie affective d’autrefois?, in: Annales d’histoire sociale, 3 (1941), S. 5–20; deutsch in: Claudia Honegger (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 313–334.
5. Ebd., S. 331.
6. Diese Aussage bezieht sich auf den westeuropäischen Raum, den Lucien Febvre in seiner Studie betrachtete.
Bild: Sixteen faces expressing the human passions. Coloured engraving by J. Pass, 1821, after C. Le Brun. Wiki Commons https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Sixteen_faces_expressing_the_human_passions.Wellcome_L0068375(cropped).jpg