Am 18. April 1968 war auf dem Brückenpflaster vor der Marburger Mensa in Ölfarbe zu lesen:
„Abendroth – Schreibtischmörder von Frings“ [1]
Der als „Schreibtischmörder“ titulierte Abendroth war Wolfgang Abendroth, von 1950 bis 1972 Professor für Wissenschaftliche Politik an der Philipps-Universität Marburg. Bei dem „Opfer“ handelte es sich um den Pressefotographen Klaus Frings, der während der Studentenunruhen infolge des Attentats auf Rudi Dutschke in München am Ostermontag 1968 von einem Stein am Kopf getroffen und zwei Tage später an seinen Verletzungen gestorben war. Der Vorfall schlug damals hohe Wellen, u.a. widmete der SPIEGEL dem Fall eine ganze Artikelserie. Doch worum ging es eigentlich und wer war Prof. Dr. Abendroth, dem hier ein Mord angehängt werden sollte?
Wolfgang Abendroth – Der verhasste „Partisanen-Professor im Land der Mitläufer“

Der 1906 in Elberfeld geborene Wolfgang Abendroth wuchs in einem sozialdemokratischen Umfeld in Frankfurt am Main auf. Über die Jugendbewegung in der Weimarer Republik trat er der Kommunistischen Jugend (KJ) und später dem Bund der Freien Sozialistischen Jugend bei, wo ihn alle nur „Wolf“ nannten. Obwohl er der KPD angehörte, hatte der als pragmatisch und undogmatisch geltende Abendroth viele Freunde in der SPD und setzte sich vor dem Hintergrund des erstarkenden Faschismus für eine stärkere Zusammenarbeit aller deutschen sozialistischen Parteien ein. Als er damit kein Gehör fand und sogar aus der KPD austreten musste, schloss er sich der Kommunistischen Partei-Organisation (KPO) an, um den illegalen Widerstand gegen das Hitler-Regime zu organisieren. Kurz vor seinem zweiten juristischen Staatsexamen wurde er das erste Mal von der Gestapo verhaftet. 1937 verurteilte ihn das Oberlandesgericht Kassel zu vier Jahren Zuchthaus bis er 1943 als „wehrunwürdiger Bewährungssoldat“ im Strafbataillon 999 zum Militärdienst im besetzten Griechenland eingezogen wurde. Dort desertierte er zur griechischen Partisanen-Armee ELAS und verbrachte nach Kriegsende einige Monate als britischer Kriegsgefangener in Ägypten. Nach seiner Rückkehr in die SBZ beendete er sein zweites juristisches Staatsexamen. 1948 wurde er zum Professor für Völkerrecht und für Öffentliches Recht an der Universität Jena berufen. Man hätte meinen können, dass Abendroth in der DDR seine politische Heimat hätte finden können, aber als bekennender Anti-Stalinist, war ihm im realexistierenden Sozialismus keine Zukunft beschieden. Exemplarisch sei hier aus einem Brief Abendroths an Karl Otto Paetel zitiert:
„Stalinistische Lehren sind bekanntlich noch blöder als andere Formen des dogmatischen und dadurch sinnwidrig gewordenen Marxismus von heute.“ [2]
1950 folgte er dem Ruf als Politikprofessor an die Philipps-Universität Marburg. Eine Rechtsprofessur lag für Abendroth in weiter Ferne, da seine juristischen Fachkollegen die Berufung eines Sozialisten nie akzeptiert hätten und auch auf der Berufungsliste für die Politikprofessur erschien sein Name anfangs nur an dritter Stelle. Die hessische Landesregierung hatte die Professur für wissenschaftliche Politik im Zuge der demokratischen „Reeducation“ der Wissenschaft geschaffen, aber die Mehrheit der Berufungskommission lehnte Abendroth aufgrund seines marxistischen Politikverständnisses ab. Dass die Stelle dennoch mit ihm besetzt wurde, hatte er koalitionspolitischen Überlegungen zu verdanken: Als Zugeständnis gegenüber dem Koalitionspartner SPD sollte der dritte hessische politikwissenschaftliche Lehrstuhl nicht mit einem weiteren CDU-nahen Kandidaten besetzt werden. Gleichwohl dominierte in Marburg während der Adenauerzeit ein kleinbürgerliches, konservatives Milieu mit „virulenten faschistoiden Tendenzen“. [3] An den geisteswissenschaftlichen und juristischen Instituten der Universität waren immer noch bzw. wieder ehemalige Nazis in Amt und Würden, was dazu führte, dass Abendroth schnell der Ruf als „Partisanen-Professor“ anhaftete, der von vielen seiner Ordinarien-Kollegen gemieden wurde. Selbst seine Familie wurde in „Sippenhaft“ genommen: Sie erhielt Drohbriefe und wurde in einigen Läden nicht bedient. Sie führten ein Leben als „Outcasts“, wie es seine Tochter Elisabeth Abendroth einmal in einem Vortrag ausdrückte. Er selbst empfand das #LebensgefühlMarburg rückblickend als sehr bedrückend:
„Die schlimmste Belastung, welche man an der Universität und unter Intellektuellen in jener Zeit mit sich herumtrug, war die, gegen den Faschismus gekämpft zu haben. Es wurde heimgezahlt, dass die wenigen Antifaschisten in der gerade vorangegangenen Zeit als Aushängeschilder gegenüber den Besatzungsmächten und als ‚Persilschein‘-Schreiber im Entnazifizierungsverfahren benutzt werden mussten.“ [4]
Bezeichnend für die Geisteshaltung mancher seiner „Kollegen“ an der Universität war das Statement Marburger Volkswirtschaftsprofessors, Ernst Heuß, der die Bezeichnung Abendroths als Schreibtischmörder noch untertrieben fand: Schließlich sei die Karriere des personifizierten Schreibtischmörders des Dritten Reiches, Adolf Eichmann, auch nur damit zu erklären, dass er sein antisemitisches Gedankengut so wie viele andere Mitläufer von seinen geistigen Vätern Goebbels und Rosenberg „eingehämmert“ bekommen hätte, bevor er den Befehl zur Ermordung der europäischen Juden vom Schreibtisch aus gab. Genauso hätten Abendroth und seine „organisierte Anhängerschaft“ von ihren Universitätsschreibtischen aus die ideologische Rechtfertigung für die gewaltsamen Studentenunruhen 1968 in vielen deutschen Städten und damit auch den Tod von unschuldigen Mitbürgern zu verantworten.
Auch wenn der Universitätssenat und die meisten seiner Kollegen Abendroth verteidigten, zeigt dieser geschichtsvergessene und geschmacklose Vergleich eindrücklich, wie verhärtet die Fronten zwischen Teilen des Marburger Professoren-Kollegiums und der Studentenschaft waren. Abendroth saß buchstäblich zwischen den Stühlen, da er sich stark mit den Zielen und Idealen der 68er-Bewegung identifizierte.
Abendroth und die 68er-Bewegung

1968 war in Westdeutschland der Höhepunkt einer von circa 1967 bis 1969 währenden von Student*innen getragenen Protestbewegung, die gegen die Erstarrung von gesellschaftlichen und politischen Strukturen aufbegehrte, in der Demokratie und Grundrechte zwar vorhanden waren, aber nicht gelebt wurden. Auslöser des bundesweiten Protestes war die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition 1966, die es den Staatsorganen erlaubte bei inneren Unruhen die Bundeswehr einzusetzen und Grundrechte außer Kraft zu setzen. Die außerparlamentarische Opposition (APO), in der zahlreiche linke Studentenverbände organisiert waren, befürchteten, dass die deutsche Demokratie autoritäre Züge annehmen könnte und rief daher zu bundesweiten Protesten auf. In Marburg war es vor allem die Auseinandersetzung um die Reform der Ordinarien-Universität, die die Studenten auf die Straße trieb. Die Studenten sollten laut des Hessischen Hochschulgesetzes von 1966 in den akademischen Universitätsgremien besser repräsentiert sein, indem ihnen ein Mitbestimmungsrecht bei hochschulpolitischen Themen eingeräumt werden sollte. Auch dieses Gesetz war Teil des Demokratisierungsprozesses des Wissenschaftsbetriebes, den 23 Professoren strikt ablehnten. Im „Marburger Manifest“ bezeichneten sie die Demokratisierung der Hochschule als „Machtergreifung“ der Studentenschaft, die durch ihre politische Mitbestimmung die unabhängigen Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Arbeit zerstören wollten. Abendroth solidarisierte sich Anfang der 1960er Jahre mit dem linken Studentenverband SDS, die das Manifest als haltlos zurückwiesen und als die SPD mit dem Godesberger Programm den Wandel von der Arbeiter- zur Volkspartei vollzog. Das neue Parteiprogramm war für ihn der Inbegriff des Verrats an der Arbeiterbewegung. Infolgedessen kritisierte er die Kehrtwende der SPD so vehement, dass er 1961 ausgeschlossen wurde und damit zum zweiten Mal seine politische Heimat verlor.
Seiner Linie, die die Lehren akademischer Arbeit mit politischem Kampf verband, blieb er weiter treu, was ihn in der westdeutschen Professorenschaft im negativen Sinne exponierte, für die Studentenbewegung aber zum Vorbild machte. Dennoch gelang es Abendroth, einerseits gesellschaftlich und politisch notwendigen Wandel meinungsstark voranzutreiben, andererseits sich nicht vereinnahmen zu lassen oder den eigenen Weg als alternativlos darzustellen – ein Spagat, der aktuellen Bewegungen immer weniger gelingt, „denn die Spezifik und damit die Begrenztheit der eigenen Perspektive kann nicht gesehen werden, weil und wenn sie absolut gesetzt wird.“ [5]
Heute gilt Abendroth vielen als politischer „Brückenbauer“, weshalb es nur konsequent ist, dass ihm 2003 die „Abendroth-Brücke“ über die Lahn an der Erlenring-Mensa gewidmet wurde.
[1] Verhaßter Kollege, in: Der SPIEGEL 20 (1968)
[2] Wolfgang Abendroth an Karl Otto Paetel, Wilton Park, 18.X.1946.
[3] BECKER, Christoph/ BONACKER, Katrin: ’68. Stichworte Marburg A-Z, S. 14.
[4] Zit. nach HEIGL, Richard: Oppositionspolitik, S. 281.
[5] GUDRUN-AXELI: Auf ein Neues!? Feministische Kritik im Wandel der Gesellschaft, Darmstadt 2018. Der Vortrag wurde auf der Tagung: „Geschlecht, Differenz und Identität. Zum Verhältnis von Subjektivierung und Gewalt“ der AStA der TU Darmstadt gehalten.
Verwendete Literatur
ABENDROTH, Elisabeth: Wolfgang Abendroth im Widerstand gegen Hitler, in: Sozialismus, Jg. 43, Heft 10 (2016), S. 60-67.
BECKER, Christoph/ BONACKER, Katrin: 68. Stichworte Marburg A-Z, Marburg 2018.
HEIGL, Richard: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken, Diss., Regensburg 2006.
PETER, Lothar: Ein Partisan im Land der Mitläufer, in: JACOBIN Magazin, 2. Mai 2020.
Abbildungsverzeichnis
Abb. Titelbild: Abendroth-Brücke in Marburg, 8. Juli 2010 (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Abendroth-Bruecke_Marburg.jpg)
Abb 1: Dr. Witich Roßmann: Wolfgang Abendroth spricht vor einer Studentenversammlung im Audimax der Universität Marburg 1972.