Ein „Studium für entschlossene Hungerleider“
Dieses Mal erkunden wir das #lebensgefühlmarburg der Studentinnen und Studenten im Marburg der 1920er Jahre und zwar auf den Spuren der Philosophin und politischen Denkerin Hannah Arendt, die von 1925 bis 1926 in Marburg Philosophie und Evangelische Theologie studierte.
Dass sie ein Philosophiestudium beginnen möchte, stand für Hannah Arendt (1906-1975) schon lange fest. Schon in der Schule, einer der wenigen privaten Mädchenschulen in ihrer Heimatstadt Königsberg, hatte sie sich für Philosophie begeistert. Zusammen mit ihrem fünf Jahre älteren Schuldfreund Ernst Grumach traf sie sich sogar außerhalb der Schule regelmäßig mit philosophiebegeisterten Schüler:innen und Lehrern. Besonders die griechischen Philosophen hatten es ihr angetan – ihre Texte las sie im Original. Anfang der 1920er Jahre, als Hannah sich nach ihrem Abitur für ein Studium entscheiden sollte, sah die politische und wirtschaftliche Lage düster aus. Wirtschaftskrise und Inflation schritten immer weiter voran – eine Situation gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Unsicherheit, die wir im Moment angesichts von Pandemie, Krieg und voranschreitender Inflation besser nachvollziehen können als noch vor wenigen Jahren. Auch die Eisenbahnfirma, in der Martin Beerwald, der zweite Ehemann von Hannahs Mutter Martha Teilhaber war, kam nur schwer durch die Krise. Als Hannah 7 Jahre alt war, starb ihr Vater Paul Arendt nach langer Krankheit im Jahr 1913. 1920 heiratete Martha den Königsberger Martin Beerwald, der zwei Töchter mit in die Ehe brachte. Hannahs Stiefschwestern Eva und Clara Beerwald beschlossen, praktische Berufe zu erlernen, um die Familie finanziell unterstützen zu können: Eva wurde Zahntechnikerin, Clara Pharmazeutin. Hannah entschied sich aus voller Überzeugung für das brotlose Studium der Philosophie, Theologie und der antiken Sprachen – im Wissen, dass daraus wohl kaum eine lukrative und sichere Berufsperspektive erwachsen würde – „eher das Studium entschlossener Hungerleider“.[1]

Porträt Hannah Arendt aus dem Jahr 1924 (Bild : Wiki Commons)
Ihren eigenen Willen hat Hannah Arendt auch in der Schule schon gekonnt durchgesetzt. Sie bot Lehrern die Stirn, gab Widerworte, wenn sie sich und andere ungerecht behandelt fühlte und rief ihre Mitschüler:innen sogar zum Boykott des Unterrichts auf, als sie mit 15 von einem ihrer Lehrer beleidigt wurde. Diese Aktion brachte ihr den Schulverweis ein, jedoch nicht den Zorn der Mutter. Denn von ihrer Mutter Martha hatte Hannah den Widerstandsgeist gelernt. Auch sie ließ sich nichts gefallen und scheute sich nicht davor, sich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Als Hannah ihr erzählte, dass Lehrer in der Schule antisemitische Äußerungen vorbrachten, wies sie ihre Tochter an, in solchen Fällen umgehend den Unterricht zu verlassen und nach Hause zu kommen. Dort schrieb Martha dann einen von vielen Beschwerdebriefen an die Schulleitung. Als ihre einzige Tochter von der Schule flog, setzte sie sich für sie ein, nutzte ihre Kontakte und organisierte ihr – auch ohne Abitur- die Erlaubnis an Vorlesungen an der Universität in Berlin teilzunehmen. Hannah zog in die Reichshauptstadt, nahm an Griechisch- und Lateinvorlesungen teil. Sie war begeistert von den Vorlesungen des jungen Theologieprofessors Romano Guardini und bereitete sich so auf das Abitur vor, welches sie 1924 – Dank dem vehementen Einsatz ihrer Mutter – als Externe ablegen durfte und ein Jahr vor ihren Klassenkamerad:innen mit Bravour bestand.

Doch nach dem Abitur ging Hannah nicht zurück nach Berlin, sondern entschied sich für die kleine Stadt Marburg. Ihr Freund Ernst Grumach studierte dort und schwärmte ihr von dem jungen Philosophie Professor Martin Heidegger vor, der seine Student:innen seit seiner Berufung im Jahr 1923 derart faszinierte, dass sie in Scharen in seine Vorlesungen kamen und ihn als Philosophen feierten, der ihnen eine neue Art zu Denken beibrachte. Also kam Hannah im Herbst 1925 nach Marburg und begann Philosophie, Evangelische Theologie und Griechisch zu studieren. Sie zog in ein Studentenzimmer in der Lutherstraße 4.

In der Lutherstraße 4 hatte Hannah Arendt ein Studentenzimmer gemietet (Foto: Katharina Simon)
Marburg war in den 1920er Jahren eine verschlafene Kleinstadt. Die Universität konnte auf eine 400-jährige Tradition zurückblicken, galt also als altehrwürdig und renommiert und konnte so einige namhafte Professoren an sich binden. Neben Martin Heidegger lehrte auch Rudolf Bultmann in Marburg – ein evangelischer Theologe, der mit seinem Ansatz, die Bibel aus ihrem historischen Kontext heraus zu interpretieren und zwischen den historischen Gegebenheiten und den religiösen Deutungen zu unterscheiden, die Evangelische Theologie aufwirbelte. Beide Professoren hatten Hannah nach Marburg gelockt- in der Zeit war es nicht unüblich, seinen Studienort nach den dort lehrenden Professoren zu wählen. Auch wenn sich Marburg seiner berühmten Professuren und der langen Universitätsgeschichte rühmen konnte, nahm Hannah, die das Leben in den Großstädten Berlin und Königsberg kannte, die Stadt als kleinstädtisch, verschlafen und nicht besonders weltoffen wahr. Die Studenten beschrieb sie als „bieder“, die Professoren gaben sich als „Halbgötter“ und auch die für die Marburger Uni typische akademische Cliquenbildung lehnte sie ab. Die fehlende Offenheit schlug sich auch in einem immer stärker werdenden Nationalismus und Antisemitismus nieder, der in der Stadt schon in den 1920er Jahren deutlich spürbar war.
Als im März 1920 der Kapp-Putsch stattfand, ein Staatsstreich, in dem konservative und rechtsextreme Gruppierungen die Regierung der Weimarer Republik stürzen wollten, breiteten sich Unruhen in verschiedenen Teilen des Reiches aus. Auch in Thüringen kam es zu Kämpfen zwischen den Befürwortern des gescheiterten Staatsstreiches und der organisierten Arbeiterschaft, die in den Streik trat. Zur Niederschlagung der Streiks wurde nicht nur die Reichswehr eingesetzt, sondern auch korporierte (in Burschenschaften organisierte) Studenten. Studenten des nationalistischen „Marburger Studentenkorps“ reisten ebenfalls nach Thüringen. Am 25. März nahmen die Marburger Studenten 15 Arbeiter gefangen und erschossen sie auf dem Weg nach Mechterstädt. Die politischen Morde, die später als „Morde von Mechterstädt“ erinnernt wurden, wurden von der Studentenschaft und der Universitätsleitung gebilligt. Die Studenten wurden in dem darauf folgenden Gerichtsprozess freigesprochen – was in linken Medien scharf verurteilt wurde. Die politische Stimmung wurde zunehmend angespannter. Eine Gedenktafel erinnert heute an der Alten Universität an die Morde.

Gedenktafel an der Alten Universität (Bild: Wiki Commons)
Doch für die Philosophiestudentin Hannah, die sich in den 1930er Jahren aktiv gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten einsetzen würde, war Politik Mitte der 1920er Jahre noch kein Thema. Sie war ganz mit ihrem Studium beschäftigt und interessierte sich vor allem für die Philosophie.
In Marburg fiel Hannah auf. Zum einen gehörte sie zu den wenigen Frauen, die an der Uni studierten. Das Recht auf das Frauenstudium war von der Frauenbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schwer erkämpft worden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen einige Frauen inoffiziell an Vorlesungen teil und legten externe Prüfungen ab. Offiziell zugangsberechtigt und ordentlich immatrikuliert wurden Frauen in Marburg allerdings erst im Jahr 1908. Auch äußerlich passte Hannah nicht in das Bild der Marburger Student:innen. Mit ihrem modischen Kurzhaarschnitt, dem „Bubikopf“, der in den 1920ern zum Symbolbild der emanzipierten „Neuen Frau“ wurde und in ihren grünen Kleidern fiel sie auf. Kommiliton:innen gaben ihr den Spitznamen „die Grüne“, bewunderten sie aber vor allem für ihr Wissen, ihren klaren Verstand und ihr entschiedenes Auftreten. Sie knüpfte schnell Kontakte, doch es fiel ihr schwer, enge Freundschaften zu schließen. Sie war viel allein, las in ihrem Dachzimmer in der Lutherstraße, fütterte ihre Hausmaus, las philosophische Werke und schrieb Gedichte, die von ihren Selbstzweifeln und Ängsten erzählen. In ihrem Gedicht „Traum“ schreibt sie:
„Ich selbst,
Auch ich tanze.
Ironisch vermessen, Ich hab nichts vergessen,
Ich kenne die Leere,
Ich kenne die Schwere,
Ich tanze, ich tanze
In Ironischem Glanze.“[2]
Die Tanzerfahrungen einer jungen Studentin in den „wilden 1920ern“ stellt man sich anders vor.
Ihr Leben änderte sich schlagartig als sie ihr Philosophieprofessor Martin Heidegger in seine Sprechstunde einlud. Ihn beeindruckte die Studentin. Nach dem ersten Kennenlernen begannen sie Briefe zu schreiben. Im ersten Brief adressierte Heidegger sie noch mit „Liebes Fräulein Arendt“, vier Tage später nannte er sie bereits „Liebe Hannah“. Schon zwei Wochen später lässt sich aus den Briefen herauslesen, dass die beiden eine Affäre begonnen hatten. Es ist nicht das erste Mal, dass sich der verheiratete Professor und Vater zweier Söhne mit Studentinnen einließ, aber dieses Mal schien es keine kurze Affäre zu sein. Noch weit über das Ende ihrer Beziehung hinaus nahmen sie Einfluss auf das Leben, Denken und Schreiben des Anderen. Hannah war begeistert von Heideggers Art Philosophie neu zu denken. In seinem Buch „Sein und Zeit“, an dem er zu dieser Zeit arbeitete, versuchte er die Philosophie ganz konkret auf das Leben des einzelnen Menschen zu beziehen. Doch trotz des regen philosophischen Austauschs und der intensiven Beziehung, waren die Heimlichkeiten ihrer Beziehung für Hannah nicht zu ertragen. Da Heidegger entschlossen war, bei seiner Frau Elfride zu bleiben, beschloss sie, die Stadt zu verlassen. Sie entschied sich für die Fortführung ihres Studiums in Heidelberg, wo sie bei Edmund Husserl Philosophie studieren und bei Heideggers Freund Karl Jaspers promovieren wollte. Ein solcher Wechsel bot Hannah die Gelegenheit Distanz zwischen die Beziehung zu Heidegger aufzubauen, es ermöglichte ihr aber auch, bei anderen Professoren zu studieren neue Denkschulen kennen zu lernen. Ein solcher Studienortswechsel war für viele Student:innen der Zeit üblich und reizvoll, denn so konnte man die Kenntnisse über das eigene Fach erheblich erweitern.

Hannah Arendt in Heidelberg. (Bild: Universitätsarchiv Heidelberg)
1928 schloss sie ihre Promotion zum Liebesbegriff bei Augustinus ab – mit 22 Jahren war sie jetzt Frau Dr. Arendt. Aber nicht nur der Studienabschluss und die Promotion gelangen ihr in Heidelberg. Die Stadt war größer, weltoffener und geselliger. Hannah mischte sich wieder unter die Leute, knüpfte Freundschaften und nahm am Salon des berühmten Soziologen Max Weber teil. Für Politik interessierte sich Hannah immer noch nicht besonders, durch das Studium in Heidelberg und die philosophischen Ansätze von ihrem Doktorvater Karl Jaspers lernt sie aber viel über die Kommunikation, die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, anderen Ideen und Überzeugungen, das Heraustreten aus der Innerlichkeit. Sie kam also buchstäblich heraus aus ihrem Dachzimmer in der Marburger Lutherstraße und öffnete sich für neue Begegnungen und Ideen und war nun bereit, sich kritisch und aktiv einzumischen.
Das tat sie in den 1930er Jahren auch, als sich die politische Lage um sie herum immer weiter zuspitzte und die Herrschaft der Nationalsozialisten begann. Unmittelbar nach Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 stellte sie sich aktiv gegen das Regime. Sie engagierte sich in der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“, dokumentierte die einsetzende Judenverfolgung und bot Menschen auf der Flucht Unterschlupf in ihrer Wohnung. Nachdem sie von der Gestapo verhaftet wurde, gelang ihr die Flucht nach Frankreich. Auch aus dem dortigen Internierungslager Gurs konnte sie fliehen. Nach ihrer geglückten Emigration in die USA begann sie sich intensiv mit den Bedingungen und Ursachen totalitärer Herrschaft zu befassen. Ihre Schriften zum Totalitarismus, vor allem aber ihre Berichterstattung über den Prozess gegen Adolf Eichman, der 1961 in Jerusalem geführt wurde und der sie zum Nachdenken über die „Banalität des Bösen“angeregt hat, sorgten für viel Aufregung, Widerspruch und Empörung. Auch ihre Positionierungen im Konflikt zwischen Israel und Palästina machten sie zu einer streitbaren, nicht selten kritisierten Denkerin. Heute werden ihre Äußerungen zur Bürgerrechtsbewegung in den USA mit rasissmuskritischem Blick gelesen. In ihrer Schrift „We Refugees“ (1943) setzte sie sich mit dem Namen, den Lebensbedingungen, den politischen Forderungen von Geflüchteten auseinander. Fragen, die auch unsere gegenwärtigen Debatten bereichern können und sollten. Das Recht, Rechte zu haben und diese auch politisch einzufordern, war für Hannah Arendt die elementare Forderung, die sie aus ihrer eigenen Erfahrung von Flucht, Migration und dem Prozess des Ankommens in einer neuen Gesellschaft gelernt hat und für das es immer wieder einzutreten gilt.
Verwendete Literatur:
Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt. Insel Verlag 2012.
Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. Piper 2015.
Bildnachweise:
Porträt Hannah Arendt 1924. Wikimedia Commons. https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt#/media/Datei:Hannah_Arendt_1924.jpg
Gedenktafel zu den Morden von Mechterstädt. Wikimedia Commons https://de.wikipedia.org/wiki/Morde_von_Mechterst%C3%A4dt#/media/Datei:Marburg_Morde_von_Mechterst%C3%A4dt_Gedenktafel.jpg
Porträt Hannah Arendt in Heidelberg. Universitätsarchiv Heidelberg.
Stadtansicht Otto Ubbelohde. Stadtansicht Marburgs 1919. Bildarchiv Foto Marburg. Bilddatei-Nr. fmd10003091.
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
Ken Krimstein: Die Drei Leben der Hannah Arendt. Graphic Novel. dtv 2018.
Fernsehinterview mit Hannah Arendt in der Sendung „Zur Person“ mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964: https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw
Lesung ihres Essays „We Refugees” (1943, auf Deutsch erstmalig 1986 veröffentlicht)https://www.youtube.com/watch?v=aMEAomtei3k
[1] Zitiert nach Alois Prinz: Hannah Arendt oder die Liebe zur Welt, Basel 2013, S. 46.
[2] Aus dem Gedicht „Traum“: Herausgegeben In: Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte. Piper 2015. S. 11.