EIN FALL DER HISTORISCHEN HEXENVERFOLGUNG IN MARBURG: FRAGMENTE, SPUREN UND DAS ERINNERN
Gastbeitrag zum #lebensgefühlmarburg von Celica Fitz und Marita Günther unter Mitarbeit von Julia Vogel vom Blog ANDERS[nicht]ARTIG
Warnung: Im folgenden Beitrag geht es unter anderem um Gewalt an Frauen in der Frühen Neuzeit.
Bilder von Hexen prägen noch heute die Vorstellungswelt. Nicht nur zu Halloween geistern Horrorvorstellungen um schädliche Zauber und nächtliche Hexentänze durch Geschichten und Gegenwart. Dass vielmehr Ausgrenzung, Ängste und banale Beschuldigungen innerhalb des alltäglichen Miteinanders Anklagen an Hexen prägten, zeigen historische Forschungen über die Verfolgung von Hexerei auf. Im Zuge des Themenjahres ANDERSARTIG. HEXEN. GLAUBE. VERFOLGUNG wurden neue Studien über Hexerei veröffentlicht und es wurde begonnen, diese Geschichte im hessischen Marburg aufzuarbeiten. Viele der neuen Erkenntnisse über Marburger Fälle und auch unsere Beiträge basieren zum großen Teil auf den Publikationen von Ronald Füssel (2020), Eva Bender (2020), Hermann Schüling (2013) und Christian Roos (2008), wie unten nachzulesen ist. Auf neuen Forschungen aufbauend, werden in diesem Beitrag Fragmente und Spuren der Geschichte beleuchtet und erfragt, wie sie mit heutigen Vorstellungswelten in Verbindung stehen.
- Was passierte während der historischen Hexenverfolgung in Marburg?
- Was ist noch von der Geschichte sichtbar und wie wird heute an sie erinnert?
- Was wir über einen Fall von der Beschuldigung wegen des sogenannten Hexerei-Delikts wissen und welche Spuren die historische Hexenverfolgung hinterließ, zeigen Einblicke in Archive genauso wie in die Altstadt Marburgs und Ausblicke auf die Gegenwartskultur.
CATHARINA STAUDINGER WIRD ANGEKLAGT
„Ansicht von Marburg, 1588“, Sebastian Münster. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Slg. 7/b 473.
Catharina Staudinger soll bereits betagt gewesen sein, als sie 1655/56 in Marburg der Hexerei angeklagt wurde. Im Zuge ihres langen Prozesses steigerten sich die Aussagen aus ihrem Umfeld von Abwertungen, Verdächtigungen bis zur Anklage der Hexerei. Schließlich wurde der verarmten Witwe des Schneiders aus der Marburger Wettergasse (nahe dem „Dreckloch“) vorgeworfen, einen Jungen verhext zu haben, der daraufhin verstarb. Obwohl dieses Kind wohl erst mehrere Monate nach ihrem Besuch erkrankte, spielte kaum noch eine Rolle, nachdem neun Zeug:innenaussagen aufgenommen wurden und 105 Anklagepunkte sich häuften.[1] Denn nach der peinlichen Halsgerichtsordnung reichten bereits Gerüchte aus, um verdächtigt zu werden. Grundlage auch für die Marburger Juristen war dabei die Constitutio Criminalis Carolina. Die Carolina oder Peinliche Halsgerichtsordnung wurde 1532 von Kaiser Karl V. in der Landgrafschaft Hessen erlassen. Sie gab vor, wie bei Verfahren wegen krimineller Delikte vorgegangen wurde – so auch beim Schadenzauber.[2]
Das Strafdelikt „Hexerei“, dessen Catharina Staudinger angeklagt wurde, war eine Konstruktion der Frühen Neuzeit. In der Zeit der historischen Hexenverfolgungen in Europa wurde dieses Delikt ab dem 15. Jahrhundert geschaffen, indem es ältere Vorstellungen von Schadenszauber mit dem Vorwurf der Häresie und der Unterstellung eines gruppenbezogenen Paktes mit dem Teufel verknüpfte: Hexerei. Der Hintergrund war die mehrfache Abgrenzung gegenüber nicht-christlichen religiösen Praktiken und innerchristliche Konflikte gegenüber sogenannten ketzerischen oder häretischen – also von der Lehrmeinung abweichenden – Gruppen. Im Zuge von Kriegsschäden, Klimaverschlechterung und Ernteausfällen konzentrierten sich Schuldzuweisungen. Schließlich steigerte sich die Angst vor vermeintlicher Hexerei unter komplexen Einflüssen und Bedingungen der Zeit bis zum Glauben an eine Gruppe von Menschen, die mit dem Teufel im Bunde gestanden haben sollen. Mit der Bulle von Papst Innozenz VIII (1432-1492) wurde 1484 auch Seitens der Kirche Hexerei als Straftat benannt und so die Verfolgung legitimiert. Dies war u.a. beeinflusst vom Wirken des Inquisitors Heinrich Kramer (ca. 1430 – ca. 1505). Sein Traktat, der sogenannte Hexenhammer (Malleus maleficarum, 1486), trieb insbesondere frauenfeindliche Angstphantasien über Hexerei, durch den Buchdruck in zahlreichen Auflagen vervielfältigt, weiter an. Die meisten Anklagen und Tötungen fanden in mehreren lokalen Verfolgungswellen im europäischen Raum zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert statt.
Als der Prozess von Catharina Staudinger beginnt, regiert der Landgraf Wilhelm VI. (reg. 1650 bis 1663) in Marburg. Wie der Historiker Christian Roos herausstellt, wurden in dieser Zeit unter dem “Gerechten” Landgrafen die Verfahrensrechte in den Prozessen eingehalten und nicht jeder unglaubwürdige Verdacht wurde zum Anlass einer Anklage. Die Situation nach dem Dreißigjährigen Krieg war jedoch noch immer prekär. 1646 ließ eine Rinderseuche viele Nutztiere sterben. Um 1654 fand die größte Verfolgungswelle Oberhessens ausgehend von Kirchhainer Schultheißen und Besagungen statt. Als Besagung wurde in frühneuzeitlichen Hexenprozessen das oft unter der „peinlichen Befragung“ oder Folter erzwungene Nennen weiterer Hexen verstanden, die man beim Hexentanz gesehen hat. Durch diese Besagungen und Denunziationen konnte eine Eigendynamik entstehen, die zu Massenverfolgungen führte. Die Verfolgungswelle in Kirchhain schürte auch Ängste im nahegelegenen Marburg, wo es kurz darauf zu Anklagen kam.[3] Als Catharina Staudinger 1655/56 angeklagt wird, sind also Hexenbilder, beispielsweise durch die Druckgraphiken nach Albrecht Dürer (1471-1528), sowie verbreitete Muster der Anschuldigungen aus der Region bereits lange bekannt.
Neben Schuldzuweisungen und Angst vor Hexerei sind es aber auch Streit, Beschuldigungen und Hörensagen, die in den Protokollen der Anklagen nachzulesen sind. Zu Beginn des Verfahrens wegen Hexerei stand die Anschuldigung: Entweder gab es eine Anzeige aus der Bevölkerung – eine Denunziation – oder eine Besagung. In den Prozessakten von Catharina Staudinger wird vermerkt, immer neue Zeug:innen berichteten, nach der Berührung von ihr hätten sie Schmerzen gehabt. Kinder seien krank geworden, nachdem die Staudinger ins Haus gekommen sei, um Gewürz zu kaufen, vorbeiging oder sie zu Besuch war. Einer von vielen weiteren Vorwürfen lautete, sie hätte ‚vor ungefähr 16 Jahren‘ Milch gestohlen, ein anderer, vor 20 Jahren hätte sie eine Frau auf der Straße gestoßen, die danach schwarze Flecken bekam. Es sei außerdem allgemein bekannt gewesen, dass die Staudinger für eine Hexe gehalten werde, gibt ein Zeuge schließlich zu Protokoll.[4] Der Fall von Catharina Staudinger ähnelt vielen Fällen, in denen Denunziationen aus der Nachbarschaft, Deutung von Umständen und Angst vor Hexerei zu Anschuldigungen führten. Schadenszauber wurden in alltäglichen Situationen erkannt, wie bei Krankheiten, Wetterwechsel oder wenn Milch verdarb. Liest man die Protokolle genau, kann ein Grund der Anklage von Catharina Staudinger zwischen den Zeilen vermutet werden. Sie hatte wohl ihre Schaufel verliehen, die sie zurück forderte: Dass sie ihre „Wurfschaufel gefordert, das wäre all ihre Zauberei“ wird als ihre Aussage notiert.[5] Die Figur der Hexe erfüllte in einem Prozess der Zuschreibung von Merkmalen eine soziale Rolle: Mit einem Verdacht von Zeug:innen konnte es praktisch jede und jeden treffen. Obwohl auch Männer, Kinder und sogar Tiere beschuldigt wurden, war die Mehrheit der Opfer mit um die 80 Prozent Frauen. Viele von ihnen standen am Rand der Gesellschaft – wie die Marburger Schneiders Witwe.
ORTE DER VERFOLGUNG VON HEXEREI – STATIONEN DER GERICHTSBARKEIT
Die zahlreichen Zeug:innenaussagen für den Fall von Catharina Staudinger sind vielleicht in der Alten Kanzlei oder Alten Landgericht aufgenommen worden – einem 1573 errichten Gebäude unterhalb des Marburger Schlosses. Dort befanden sich ab 1575 die Vertreter des Landesherrn, die Verwaltung und Regierungsgeschäfte vornahmen. Weitere Orte der Hexenprozesse sind in der Marburger Altstadt zu finden. Im Rathaus tagte ab dem 15. Jahrhundert das Marburger peinliche Halsgericht und auch Untersuchungen fanden dort statt.
Wurde bei der Voruntersuchung genügend belastendes Material zusammengetragen, wurde von der Regierung das Verfahren eingeleitet und der Prozess an das Marburger peinliche Halsgericht übergeben, das für Körper- und Todesstrafen zuständig war. Nach Marburg wurden auch viele Beschuldigte umliegender Orte überführt, wenn dort keine geeigneten Räume vorhanden waren. Wo Catharina Staudinger nach der Anklage und der Sammlung der über 100 Anklagepunkte eingekerkert und befragt wurde, ist nicht genau zu rekonstruieren.

Der sogenannte Hexenturm des Landgrafenschlosses Marburg, Foto: Marita Günther
In Marburg gab es mehrere Möglichkeiten, Gefangene zu verwahren, zum Beispiel unter dem Marburger Rathaus. Dort befindet sich noch heute das 1470 errichtete Lochgefängnis. Es wurde vermutlich nur für kurze Inhaftierungen genutzt, zum Beispiel wenn auf das Verhör im selben Haus gewartet wurde. Auch im Landgrafenschloss wurden Gefangene verwahrt. 1487 wurde am Schloss der Weiße Turm als ein Geschützturm errichtet. 1565 wurde er zum Gefängnis umgebaut. Er erhielt später den Namen, unter dem er auch heute noch bekannt ist: Marburger Hexenturm. Dort wurden auch Personen, die der Hexerei angeklagt waren, eingekerkert. In Inschriften und eingeritzten Motiven in den ehemaligen Zellen lassen sich Spuren von Inhaftierten finden.
DIE PEINLICHE BEFRAGUNG: PROTOKOLLE DES FISCALS
Was wir von Catharina Staudinger wissen, basiert zum großen Teil auf den Aufzeichnungen des Hessischen Fiscals, den Fallakten, Schreiben und Protokollen ihrer peinlichen Befragung (Folter). In den Protokollen über den Prozess von Catharina Staudinger findet sich eine wiederkehrende Antwort auf die Anschuldigungen der Ankläger wie “ […] ist dies gleichfalls eine offenbare Zaubertat“ notiert: „sie wisse es nicht; unter Folter: nein“.[6] Die wiederkehrenden Unschuldsbekundungen wurden vom Fiscal als Widerstand gewertet. In einer Schrift vom 18. Juni 1656 wird gefordert, „daß die Wahrheit aus ihr durch Vermittlung der Tortur (Folter) zu erzwingen ist“[7] und in einem weiteren Schreiben kurz darauf „das an der p. Bekl. angefangene Verhör unter Folter gehörigermaßen mit scharfer peinlicher Frage fortzuführen bzw. zu wiederholen, damit die rechte Grundwahrheit an den Tag komme und durch ihre teuflische Festigkeit und Verhütung die liebe Justiz nicht wiederrum zum Narren gehalten, dem Unrecht und Übel mit gehörigem Nachdruck gesteuert und das Böse aus der Stadt Marburg geschafft werde“ (20. Juni 1656). [8]
Bestandteil vieler Hexenprozesse war Einkerkerung und Folter. Die Geständnisse und die Besagung von vermeintlichen weiteren Hexen wurden dabei erpresst. Nach mehrfacher peinlicher Befragung gesteht auch Catharina Staudinger. Es wird verzeichnet, sie gäbe zu, dem Teufel begegnet zu sein. Er sei „in lumpichten Kleidern, häßlicher Gestalt, mit Füssen gleich Teufelsklotzen zu ihr gekommen; an verschiedenen Orten hätte sie mit ihm zu thun gehabt, es hätte ihr aber gar häßlich gethan, mit einer Empfindung wie die von einem kalten Holze, so daß sie zuweilen an 14 Tage Schmerzen davon empfunden“.[9] Später wird von ihr geschrieben, sie habe auch sechs Mal die Hexentänze, beispielsweise am Marburger Rotenberg besucht, habe zugegeben, andere Hexen zu kennen. Sie habe die Kinder verflucht.
Damit hatte die Folter Catharina Staudinger dazu gebracht, mehrere der zur Verurteilung notwendigen Merkmale der Hexerei zu gestehen. Um den Tatbestand der Hexerei als gegeben zu belegen, wurde in den Befragungen und Prozessen nach fünf Charakteristika gesucht: Schadenzauber, Teufelspakt, Teufelsbuhlschaft (der Geschlechtsakt) sowie der Flug (Nachtfahrt) und der Hexentanz (Treffen vieler Hexen an bestimmten Orten). Galten diese Merkmale als belegt und gestanden die Angeklagten, wurden sie meist zum Tod durch das Feuer verurteilt, so auch Catharina Staudinger. Der Endliche Rechtstag vor dem Rathaus verkündete das Urteil vor einem großen Publikum auf dem Marktplatz.
ZUM RICHTSBERG

Ehemalige Richtstätte Rabenstein Marburg, Foto: Celica Fitz
Kam es zur Verurteilung, so führte der Weg aus der Stadt hinaus zur Richtstätte am Rabenstein. Diesen Weg, entlang von vielen Schaulustigen, wird wahrscheinlich auch Catharina Staudinger genommen haben müssen. Er geht über die Weidenhäuser Brücke – bei der wahrscheinlich entgegen der Gerüchte keine Hexenproben stattgefunden haben – hinauf zur Scheppe Gewissegasse. Auch heute führen die Scheppe Gewissegasse und der Gerichtsweg steil bergauf zum Rabenstein am Richtsberg. Seit 1591 wurden dort nicht nur die Enthauptungen, sondern vermutlich auch die Verbrennungen durchgeführt. Eine vorher durchgeführte Enthauptung oder heimliche Erdrosselung galt dabei als Akt der Gnade. Der Rabenstein lag zu Zeiten der Hexenverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert weithin von der Stadt und von den Handelswegen über die Lahnberge aus sichtbar.
Das Todesurteil von Catharina Staudinger führte sie wohl ebenfalls auf den Richtsberg. Die Notiz in den Akten über ihre Tötung ist es, welche der Historiker Ronald Füssel zum Titel seiner Stadtschrift machte: „Gefoltert, gestanden, zu Marburg verbrannt“. Catharina Staudinger wurde am 14. Juli 1656 in Marburg verbrannt.
WIE STARK WAR MARBURG VON DER HEXENVERFOLGUNG BETROFFEN?
Im Vergleich mit anderen Regionen in Deutschland gibt es weniger Opfer zu beklagen, jedoch mehrere Verfolgungswellen mit Beschuldigungen. Die Rolle von Regierung, Religionen und Gesellschaft sind dabei in Marburg wie auch in anderen lokalen Kontexten komplex. Anlässlich des Themenjahres zum Gedenken der historischen Hexenverfolgung widmete sich die Studie von Dr. Ronald Füssel den Quellen. Darin wird aufgezeigt, dass in den Jahren 1517 bis 1695 nach Urteilen im Raum um Marburg über 100 Personen angeklagt und mindestens 24 Personen getötet wurden.
Über die wahrscheinlich erste Person, die aufgrund der Anschuldigung der Zauberei 1517 in Marburg getötet wurde, wissen wir nur indirekt. Eine Rentmeister-Rechnung notiert den Preis des Holzes für den Scheiterhaufen, auf dem die sogenannte Wirwettzen verbrannt wurde.

Rentmeisterrechnung von 1517 über bezahltes Holz für die Verbrennung der sog. Wirwettzen, Hessisches Staatsarchiv Marburg, Signatur: HStAM Rechnungen I, Nr. 80/4 als Ergänzung zu „Band 39 der Rentmeisterrechnung. Foto: Marita Günther, 2020. Herzlichen Dank an das Hessische Staatsarchiv Marburg für die Erlaubnis, Fotografien der Archivalien zeigen zu dürfen.
In insgesamt 29 Fällen konnte den Protokollen der Ausgang des Verfahrens entnommen werden. Bei über 20 Fällen blieb das Urteil offen. Kam es zur Schuldigsprechung der Angeklagten, wurden sie meist verbrannt. Unter diesen Opfern waren zwei Männer und 22 Frauen. Die meisten davon wurden am Amt Marburg verurteilt, einige in umliegenden Ämtern in Oberhessen. Zwei weitere Opfer verstarben in Haft, eine unter der Folter. Sechs weitere Personen wurden des Landes verwiesen. Es gab auch Geldstrafen oder den vorläufigen Freispruch, der bei neuen Verdachtsmomenten widerrufen werden konnte. Viele Angeklagte mussten vor der Entlassung aus der Haft nicht nur selbst für ihre Tortur zahlen, sondern auch versprechen, sich nicht zu rächen. Die Kosten der Prozesse und Tötungen mussten von den Angeklagten oder ihren Familien beglichen werden. Wie es beispielsweise der Fall von Hans Georg Fröhlichs Mutter um 1664 verzeichnet, waren nicht alle Familien damit einverstanden. Auch die Prozesskosten von Catharina Staudinger wurden noch 18 Jahre nach ihrer Tötung nicht gezahlt.[10]
ERINNERN AN DIE OPFER DER HEXENVERFOLGUNG
An wenigen Orten der Hexenverfolgung in Marburg finden sich heute direkte Hinweise auf die Verfolgungen. Am sogenannten Hexenturm wird über die Nutzung als Gefängnis zwischen 1550 und 1866 informiert. Das Landgrafenschloss ist heute zum Teil ein Museum; in der Alten Kanzlei befinden sich die Religionskundliche Sammlung und das Fachgebiet Religionswissenschaft der Philipps-Universität. Das Rathaus ist Sitz der Stadtverwaltung. Seit 2020 machen Kunst- und Kulturprojekte auf die Geschichte der Hexenverfolgung aufmerksam. Dem Weg von Catharina Staudinger widmete sich nicht nur unser Blog, sondern auch ein Audioguide machte ihre Geschichte entlang weiterer Stationen in der Stadt hörbar.
Zum Abschluss des Themenjahres wurde ein Gedenkstein eingeweiht, der die Erinnerung an die unschuldig getöteten Personen verankern soll. Catharina Staudinger ist eine der historischen Personen, denen am Lutherischen Pfarrhof am Schlossberg gedacht wird. Von dort aus sieht man hinüber zum Rabenstein auf der anderen Seite des Lahntals. Auf die Altstadt hinunterblickend kann in Richtung des Rathauses der Weg verfolgt werden, den Catharina Staudinger – wie viele andere – durch die Stationen der Gerichtsbarkeit zu gehen hatte.

Denkmal für die Opfer der Hexenverfolgung in Marburg, Künstlerin: Antje Dathe, Foto: Marita Günther, 2021
Die Erinnerung an die historische Hexenverfolgung und deren Aufarbeitung ist eine Verantwortung, der sich seit einigen Jahren viele Städte und Gemeinden widmen. Noch heute ist die Erinnerung jedoch stark geformt von Vorurteilen und Medien, die Vorstellungen von Hexerei im europäischen Raum verniedlichen, mystifizieren oder als Vorlage für mediale Horrorszenarien nutzen. Leicht übersehen werden dabei die tatsächliche Banalität der Vorwürfe, die sozialen Prozesse der Ausgrenzung und, dass Vorstellungen von Hexerei in vielen Teilen der Welt noch heute zu Verfolgungen führen. Eine geschichtswissenschaftliche sowie kulturwissenschaftliche Perspektive auf Hexerei kann helfen, diese Prozesse des Otherings zu reflektieren.
AUS DER VERGANGENHEIT IN DIE GEGENWART: NEUE HEXEN*BILDER
Hexen polarisieren noch heute. Werden sie an manchen Orten noch immer gefürchtet, sind sie auch in vielen Regionen inzwischen eine anerkannte Religion. Hexen sind kein Thema allein der Vergangenheit, sondern sie sind gelebte Praxis. Sie können dabei auch politisch sein. Neben medialen Interpretationen gibt es aktuelle Hexen-Bilder als emanzipative Aneignung und politisches Statement. Dabei handelt es sich um eine selbst gewählte und gestaltete Praxis.
Die wohl einflussreichste Form der selbstgewählten religiösen Praxis von Hexen seit dem 20. Jahrhunderts ist Wicca. Wicca wurde seit den 1950ern zunächst von dem Briten Gerald B. Gardner und später zusammen mit Doreen Valiente entwickelt. Es entstanden weitere Traditionslinien, vor allem in den USA. Seit den 1970er Jahren wird die Hexe* immer mehr zum feministischen Symbol. Es gibt mittlerweile viele Selbstverständnisse darüber, was gegenwärtige Hexen* sind. Dabei gibt es unterschiedliche Traditionslinien und sowohl allein Praktizierende als auch solche, die gemeinsam in Zirkeln, den Coven, zusammen Rituale und Feste im Jahreskreis feiern.
Die Hexe* ist heute Ausdrucksform individueller religiöser Selbstermächtigung aber auch des politischen Widerstands: Trends in sozialen Medien wie #witchesofinstagram verzeichnen seit Jahren rasanten Zuwachs. Bekannt ist seit einigen Jahren auch der Spruch „We are the granddaughters of the witches you couldn’t burn!“

Banner unter der Weidenhäuser Brücke in Marburg, Foto: Marita Günther 2020
Zeitgenössische Hexen referieren auf die Vergangenheit der europäischen Hexenverfolgung. Sie haben das Selbstverständnis einer herrschaftskritischen Welt, in der Menschen und Umwelt verbunden und gleichberechtigt leben. Sie verbinden die Geschichte mit aktivistischen Kämpfen gegen sexistische, soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten, den Klimawandel und (neo-)koloniale Machtverhältnisse. Die Geschichte der europäischen Hexenverfolgung greifen sie dabei auf, um auf Prozesse der Ausgrenzung aufmerksam zu machen. Spuren solcher Interpretationen fanden sich im Zuge der Aufarbeitungen in Marburg auch unter der Weidenhäuser Brücke, über die die Verurteilten ihren Weg zum Richtsberg gehen mussten.
Verwendete Literatur:
Christian Roos (2008), Hexenverfolgung und Hexenprozesse im alten Hessen. Marburg, insb. S. 53-58, 62, 71-91, 95.
Dietrich Tiedemann (1787). Auszug aus vollständigen Akten eines im Jahr 1655 zu Marburg vorgefallenen Hexenprozesses, der sich mit dem Scheiterhaufen endigte, in: Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst, Band 2, Frankfurt am Main 1787, S. 577-605, hier zitierte Prozessakten von Catharina Staudinger S. 586-587.
Eva Bender (2020), Zauberei ist des Teufels selbs eigen Werk – Hexenglaube und Hexenverfolgung in Hessen. Text zur Ausstellung im Hessischen Staatsarchiv Marburg [18. Feburar bis 14. August 2020]. insb. S. 16-17.
Hermann Schüling (2013), Hexenprozesse Mitte des 17. Jahrhunderts. Gießen. Zitate aus „Artikulierte peinliche Amtsanklage des Hess. Fiscals gegen Witwe Catharina Staudinger; und deren Antworten“, S. 99-106 (vgl. StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 2r-5r.); „Kurze Prüfungs-, Anzeigungs- und Folgerungsschrift des Fiscals gegen p. Bekl. Witwe Catharina Staudinger (18.06.1656) S. 108 (vgl. StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 10r, 10v); „Ausführungen des Fiscals über das peinliche Verhör der gefolterten Beklagten; und erneute Fragen“ S. 109-111 (vgl. StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 6r-7v); „Schreiben des Fiscals an die Stadt Marburg zur kurzen Prüfung und zur neuen Urteils-Auseinandersetzung mit Schlußfolgerung, kurz nach dem 20.06.1656“, S. 112 (vgl. StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 8r und 8).
Malcom Gaskill (2013): Hexen und Hexenverfolgung. Eine kurze Kulturgeschichte. Stuttgart.
Ronald Füssel (2020), Gefoltert. Gestanden. Zu Marburg verbrannt. Die Marburger Hexenprozesse. Marburg, insb. S. 135ff zum Fall von Catharina Staudinger.
Victoria Hegner (2019), Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin, Bielefeld.
Walter Rummel und Rita Voltmer (2008), Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit, Darmstadt.
Wolfgang Behringer (2015/1998): Hexen. Glaube. Verfolgung. Vermarktung. München. Insb. S. 38-52.
Karte Marburgs: „Ansicht von Marburg, 1588“, Sebastian Münster, Druck in: Sebastian Münster, Cosmographen oder Beschreibungen aller Länder, herrschaftenn und fürnemesten Stetten des gantzen Erdbodens, Basel 1588, S. 868. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Slg. 7/b 473; Universitätsbibliothek Marburg, Sig. VIII A 129a, [2] # K[A], Bl. 5. <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/oa/id/2498>
Zum Weiterlesen und Weiterhören:
Marburger Hexenroute (Audioguide): wr56
Andersnichtartig.com: OPFER DER HEXENVERFOLGUNG: URTEILE AUS + UM MARBURG
[1]Artikulierte peinliche Amtsklage des Hess. Fiscals gegen Witwe Catharina Staudinger; und deren Antworten, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 2r-5r, vgl. Schüling (2013), S. 107.
[2] Behringer (2015), S. 45-46.
[3] Roos S. 74-81, S. 84-84.
[4] Artikulierte peinliche Amtsklage des Hess. Fiscals gegen Witwe Catharina Staudinger; und deren Antworten, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 2r-5r, vgl. Schüling (2013), S. 99-107, Kurze Prüfungs-, Anzeigungs- und Folgerungsschrift des Fiscals gegen p. Bekl. Witwe Catharina Staudinger (18.6.1656), vgl. Schüling (2013), S. 108. Ausführungen des Fiscals über das peinliche Verhör der gefolterten Beklagten; und erneute Fragen, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 6r-7v, vgl. Schüling (2013, S. 109-111).
[5] Ausführungen des Fiscals über das peinliche Verhör der gefolterten Beklagten; und erneute Fragen, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 6r-7v, vgl. Schüling (2013), S. 109-111).
[6] Artikulierte peinliche Amtsklage des Hess. Fiscals gegen Witwe Catharina Staudinger, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 2r-5r, vgl. Schüling (2013), S. 102.
[7] Kurze Prüfungs-, Anzeigungs- und Folgerungsschrift des Fiscals gegen p. Bekl. Witwe Catharina Staudinger (18.6.1656), StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 10r und 10v, vgl. Schüling (2013), S. 108.
[8] Schreiben des Fiscals an die Stadt Marburg zur kurzen Prüfung und zur neuen Urteils-Auseinandersetzung mit Schlußfolgerung, kurz nach dem 20.6.1656, StA Marburg Bestand 260, Nr. 269, Bl. 8r und 8v, vgl. Schüling (2013), S. 112.
[9] Zitiert nach inzwischen nicht mehr vorhandenen Archivalien, vgl. Füssel (2020), S. 135.
[10] Füssel (2020), S. 136).