Durch Felder und Wiesen und vorbei an Städten und Burgen schlängelt sich die Lahn durch die hessische Landschaft. Auf ihrem Weg von der Quelle bis zur Mündung in den Rhein passiert sie auch die Stadt Marburg, wo im Sommer die Lahnwiesen zum Sonnenbaden, Grillen und Feiern einladen. Durch die grüne Ufervegetation gibt sie immer wieder den Blick auf die Marburger Oberstadt mit dem Landgrafenschloss frei, das über der Stadt thront. Weiter flussabwärts fällt in Ufernähe ein grauer terrassenförmiger Wohnkomplex aus den 70er Jahren ins Auge, der von den Marburger*innen liebevoll „Affenfelsen“ genannt wird. Bis 1970 stand hier ein Wirtshaus mit dem Namen „Schützenpfuhl“, das an einem mit Schilf, Erlen und Weiden gesäumten Altarm der Lahn lag. Heute erinnert nichts mehr an das Gebäude, bis auf eine gleichnamige Brücke, die am Südbahnhof die Lahn überquert.
Der Schützenpfuhl war eines von mehreren Wirtshäusern in Marburg, in denen nicht nur Reisende einkehrten, sondern wo sich ein bunter Querschnitt der Stadtgesellschaft traf – von Studenten über Soldaten bis hin zu Fuhrleuten. Hier trafen sich die Gäste zum Feierabendbier, es wurden Handel abgeschlossen, der neueste Klatsch und Tratsch ausgetauscht und Freundschaften geschlossen. Gleichzeitig galten Wirtshäuser aus Sicht der Stadtregierenden und der Kirche lange Zeit als Orte von Sünde und Laster, in denen zu viel getrunken, sich geprügelt und verschworen wurde und die die öffentliche Ordnung untergraben würden. Ob nun verehrt oder verteufelt, waren Wirtshäuser nichtsdestotrotz eine Art Seismograph für das #lebensgefühlmarburg und spielten für den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft eine entscheidende Rolle.
Warum aber ist gerade dieses Wirtshaus in die Erinnerungskultur Marburgs eingegangen? An dieser Stelle sei nur so viel verraten: Der Schützenpfuhl genoss schon bevor er seine Pforten schloss einen weit über die Stadtgrenzen Marburgs reichenden Ruf und hat darüber hinaus in der Musik seine Spuren hinterlassen. An dieser Stelle schließt der Beitrag an, der dem historischen Gastronomiegewerbe und ihren Protagonist:innen im 18. und 19. Jahrhundert auf den Grund geht, die bis heute das Stadtbild und die Stadtgesellschaft Marburg prägen.
Von der Sorge zum Schützenpfuhl

Wann das Wirtshaus errichtet wurde, lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Fest steht, dass das Gebäude bis ins 18. Jahrhundert hinein unter dem Namen „Die Sorge“ bekannt war. Sein damaliger Besitzer, der Geheime Kriegsrat Christian Albrecht Möller (1659-1735), nutzte es überwiegend als Gartenhaus. Wie einer Karte aus der Zeit zu entnehmen ist, standen neben dem langgezogenen Haupthaus links und rechts zwei weitere Wirtschaftsgebäude, in denen Ställe, Scheunen sowie Lager- und Schlafräume untergebracht waren und die zusammen einen Hof bildeten. Allerdings ist anzunehmen, dass das Gartenhaus nicht nur privat genutzt wurde, sondern auch vor dem 18. Jahrhundert Gäste beherbergte, jedenfalls legt die Namensgebung die Versorgungsaufgabe der Wirtszunft nahe. In unmittelbarer Nähe zum Wirtshaus gehörte auch ein mit Schilf bewachsener Pfuhl, der sich aus einem Altarm der Lahn speiste, der von zahlreiche Erlen und Weiden gesäumt wurde und über den ein Steg zum Gebäude führte. Der Teich befand sich ursprünglich im landgräflichen Besitz, bevor er dem Marburger Schöffen Paul Schütz geschenkt wurde. Aus dem als „Pfuhl“ bezeichneten Teich und dem Namen seines Besitzers bürgerte sich schließlich der Name „Schützenpfuhl“ als Bezeichnung für das Wirtshaus ein. Nach dem Tod Möllers verkaufte seine Witwe das Anwesen schließlich an den Marburger Bürger Martin Heidecker, der aus dem ehemaligen Gartenhaus eine Wirtschaft machte, die als „Wirtshaus an der Lahn“ überregionale Bekanntheit erlangen sollte.
Das Wirtshauslied
Die Bekanntheit des Schützenpfuhls ist maßgeblich auf ein Lied mit dem Titel „Wirtshaus an der Lahn“ zurückzuführen, das von der „Frau Wirtin“ und ihren Gästen handelt.
Das Wirtshaus an der Lahn
„Es steht ein Wirtshaus an der Lahn, Da kehren alle Fuhrleut‘ an. Frau Wirtin, schenkt vom Besten, Ulrichsteiner Frucht-Branntwein, Und setzt ihn vor den Gästen.
Frau Wirtin hat einen braven Mann, Der spannt den Fuhrleut’n selber an; Der Wirth, der sitzt wohl oben, Die Fuhrleut‘ sitzen um den Tisch, Den Wein thut jeder loben.
Frau Wirthin hat eine brave Magd, Die sitzt im Garten und rupft Salat, Sie kann es kaum erwarten, Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt, Und wartet auf die Soldaten.
Frau Wirtin hat einen braven Knecht, Und was er thut, das thut er recht; Er thut gern caressiren, Des Morgens, wenn er früh aufsteht, So kann er sich nicht rühren.
Und wer hat dieses Lied gemacht? Zwei Mann Soldaten auf der Wacht, Ein Musketier und Pfeifer, Und wer das Lied nicht singen kann, Der fang‘ es an zu pfeifen.“[2]
Leider lässt sich die Autorenschaft des Liedes nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren. Sicher ist nur, dass sich das Lied in vielen verschiedenen Varianten erhalten hat und in der Marburger Studentenschaft regen Anklang fand, was die Aufnahme in zahlreiche Kommersbücher (Liedgutsammlungen von Volks- und Studentenliedern) erklärt. Seine bis heute anhaltende Bekanntheit verdankt das Wirtshauslied aber nicht seiner ursprünglichen Version, sondern seinen später umgeschriebenen anzüglichen Wirtin-Versen, die der Gastgeberin diverse Liebschaften zu ihren Gästen andichten und ihre Kompetenz als gute Wirtin in Zweifel ziehen. So wird sich in späteren Liedversionen Ende des 19. Jahrhunderts über die Qualität der Getränke mit Zeilen wie den Folgenden beschwert: „Das Bier kann Niemand soofen“ oder „Den Wein will Niemand holen“.[3] Auch wissen wir aus Berichten, dass sich seit der Übernahme des Wirtshauses durch Heidecker am Schützenpfuhl zur Abendzeit „allerhand liederliches weibsvolck“ versammeln würde, was die Studentenschaft zu einem „bößem Leben“ verführen und allerhand Streit und Lärm verursachen würde.[4] Kurzum: Das Wirtshaus besaß in der Marburger Bürger- und Professorenschaft einen zweifelhaften Ruf, der dem Ansehen der Universität schaden würde.
Doch worauf ist dieser Ruf zurückzuführen? Dazu wollen wir uns den Liedtext genauer anschauen und daraus Rückschlüsse auf gesellschaftliche Rollen in der Trinkkultur von Wirtshäusern ziehen.
Wirtshäuser und ihre Wirte

Einerseits waren Gastwirte durch ihr Angebot von Speis und Trank und Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Gäste essentieller Bestandteil der städtischen Grundversorgung. Ein warmes Bett und ein reichhaltiges Essen waren besonders für die Fuhrleute, die im Lied besungen werden, von großer Bedeutung – lag Marburg doch an einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt für den Warenverkehr mit Fuhrwerken zwischen Kassel und Frankfurt. Es ist also kein Wunder, dass mit zunehmender Reisetätigkeit und dem rasanten Wachstum der Stadtbevölkerung die private Gastfreundschaft zunehmend im öffentlichen Wirtshaus kommerzialisiert wurde. Hierfür mussten Wirte Schanklizenzen erwerben und Abgaben bezahlen. Hält man sich außerdem den überaus hohen Stellenwert von Gastfreundlichkeit in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft vor Augen, trugen Gastwirte maßgeblich zum äußeren Ansehen einer Stadt bei. Die Stadt profitierte also finanziell und symbolisch von einem reichhaltigen und vielfältigen Gastgewerbe, wovon Marburg bis heute viel zu bieten hat.
Andererseits erlangten die städtischen Behörden durch den öffentlichen Charakter der Wirtshausszene Zugang zum Innenleben, d.h. sie durften kontrollieren, was in den Wirtshäusern vor sich ging. Während bei der privaten Bewirtung von Gästen innerhalb der eigenen vier Wände die Zugriffsgewalt der Stadtbehörden an der Türschwelle endete, war dies bei Wirtshäusern mit offizieller Lizenz anders, was einen speziellen Grund hatte: die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch Betrunkene.
Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit
Wie oben angedeutet, verlief offensichtlich nicht jeder Abend im Schützenpfuhl so gesittet wie die Stadtobrigkeit es sich vorstellte. Wirtshausschlägereien, Pöbeleien und öffentliche Ruhestörung infolge von übermäßigem Alkoholkonsum waren an der Tagesordnung, was Wirtshäusern den zeitgenössischen Ruf von verrufenen und sündigen Orten einbrachte. Es wurden mehrere Anträge gestellt, dem Schützenpfuhl die Konzession zu entziehen, was aber misslang, weil damit das eigentliche Problem nicht behoben werde, wie der Historiker und Professor für Beredsamkeit und Poesie, Conrad Curtius (1724-1802), in seiner „Geschichte des Stipendiatenwesens zu Marburg“ (1781) anmerkte:
„Ob aber der Student am Steinweg, oder vor dem Elisabether Thor, zu Ockershausen, Gißelberg oder am Schützenpfuhl liederlich ist, ist ziemlich einerley. […] Es sind andere Quellen dieser Übel, welche verstopft werden müßen, wan denen ausschweiffungen vorgebauet werden soll.“[5]
Was er meinte, war das Thema Trunkenheit, welches Publizisten über viele Jahrhunderte hinweg beschäftigte und die städtische Obrigkeit versuchte, meist erfolglos, in den Griff zu bekommen. Mit dem Wachstum der Städte und dem zunehmenden Bedarf an kommunaler Kooperation ging ein verstärktes Streben nach Harmonie Hand in Hand, welches sich in gesellschaftlichen, religiösen und politischen Formen der Sozialisation ausdrückte. Dieses Streben nach Disziplin und Harmonie beinhaltete einen Normenkanon an gesellschaftlich akzeptiertem Verhalten, wozu Trunkenheit in der Öffentlichkeit definitiv nicht gehörte, und dem die Stadtbehörden regulativ entgegenzuwirken versuchten. So wiesen zahlreiche Publizisten auf die sexuellen Ausschweifungen bei Männern und Frauen infolge übermäßigen Alkoholkonsums hin:
„Auch stachle der Wein die Wollust an, was Trinker zu Hurenböcken und Frauen, die Wirtshäuser aufsuchten, zu Huren mache.“[6]
Tatsächlich werden sexualisierte Anspielungen bereits in der zitierten Liedversion angedeutet, wenn dem Knecht aufgrund der körperlichen Anstrengung, die seine zahlreichen Affären verursachen, das Aufstehen am Morgen schwerfällt. („Er thut gern caressiren [umschmeicheln, liebkosen]/ Des Morgens, wenn er früh aufsteht/ So kann er sich nicht rühren.“) Dies ist insofern ungewöhnlich, als dass man in der Frühen Neuzeit allgemein der Meinung war, dass Alkoholkonsum sich bei Männern positiv auf die Potenz auswirke, während sich Frauen im Rausch sexuell ungebührlich benehmen und zu Prostituierten würden.
Dass sich Frauen beim Alkoholkonsum zurückhalten sollten, hieß jedoch nicht, dass sie im Wirtshaus nicht präsent waren. Zum einen waren es Hausiererinnen und Dienstmägde, die zum Personal gehörten und zum anderen Wirtinnen, die in der Regel als Ehefrauen der Wirte mitverantwortlich für die Bewirtung der Gäste waren. In der Regel vermieden sie es aber, gemeinsam mit Gästen zu trinken, weil der negative Beigeschmack, dem Frauen und Alkohol in der zeitgenössischen Trinkkultur beigemessen wurde, sie deutlich einfacher und häufiger zur Zielscheibe von Hohn und Spott machte als Männer.
Solche Vorstellungen haben viele Historiker dazu veranlasst, die Unkenrufe ihrer frühneuzeitlichen Zeitgenossen für bare Münze und die Moralisierung von Wirtshausbesuchern ernst zu nehmen. Dabei unterschieden sich die Trinkgewohnheiten der städtischen Bevölkerungsschichten keineswegs. Professoren und andere „angesehene Bürger“ einer Stadt gehörten genauso zu den Stammgästen in Wirtshäusern wie andere Teile der Stadtbevölkerung. Die Trunkenheitsdebatte diente dem aufstrebenden Bürgertum somit in erster Linie dazu, sich von „unliebsamen“ Teilen der Stadtbevölkerung abzugrenzen, indem man diese kriminalisierte und zu Außenseitern der Gesellschaft machte. Indem es vor allem die Folgen von Alkoholkonsum als Bedrohung der öffentlichen Ordnung darstellte, lenkte das Bürgertum von der weithin akzeptierten Trinkkultur ab und machte das Thema zu einem Symptom fehlenden Maßhaltens einzelner Bevölkerungsschichten.
Nach der gleichen Logik funktionierte die ablehnende Haltung gegenüber trinkenden Frauen. Da das Wirtshaus als männlich dominierter Raum und das Trinken als männliche Domäne galt, waren Frauen als zahlende Gäste nicht gerne gesehen. Taten sie es dennoch, gaben sie sich, wie in den anzüglichen Wirtin-Versen zu beobachten, der Lächerlichkeit preis, da sie mit ihrem Verhalten die natürliche Ordnung der Geschlechter und der häuslichen Machtverhältnisse ins Gegenteil verkehren würden.
Trotz aller Bemühungen der Bürger- und Professorenschaft bei der Stadt, dem Schützenpfuhl die Konzession zu entziehen, ließ sich die Stadt nicht zur Schließung des Wirtshauses bewegen, da der positive Beitrag, den Lokalitäten wie das Wirtshaus an der Lahn für das Funktionieren und den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft leisteten, die Nachteile überwog.
Zum Weiterlesen
BICKERT, Hans Günther/ NAIL, Norbert: Der alte Gasthof zum Schützenpfuhl in Marburg. Mit einem Beitrag über „Himmelsbriefe“, Marburg 2008.
EBERT, Horst: 958 Verse von der Frau Wirthin von der Lahn. Mit der historischen Entstehungsgeschichte des Liedes, Jesteburg 1999.
SCHWIBBE, Gudrun (Hg.): Kneipenkultur. Untersuchungen rund um die Theke, Münster 1998.
TLUSTY, B. Ann: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg, Augsburg 2005.
[1] Titelbild: Gasthof zum Schützenpfuhl, Marburg, 1956 (Bildarchiv Foto Marburg, fmb8517_09)
[2] Commers=Buch 1887= Commers=Buch für den deutschen Studenten. Sechsundzwanzigste Stereotypauflage. Leipzig 1887, S. 335.
[3] Zit. nach BICKERT/ NAIL: Der alte Gasthof, S. 20.
[4] Ebd., S. 56.
[5] Ebd., S. 58.
[6] TLUSTY, B. Ann: Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg, Augsburg 2005, S. 9.