Stolz und erhaben ragen ihre Glockentürme in den Himmel und ihre Mauern trotzen seit 787 Jahren jedem Wetter, jeder Krise, jedem Krieg – die Marburger Elisabethkirche. Sie prägt nicht nur bis in die heutige Zeit markant das Stadtbild, sondern vereint in sich so viele Charakteristika, die die Stadt auszeichne(te)n: In ihren Türmen, die Unter- und Oberstadt miteinander zu verbinden scheinen, spiegeln sich die rundherum gelegenen Hügel der Lahnberge wieder. Der Innenraum der Kirche offenbart, wie so viele andere Orte in Marburg, die lange Geschichte der alten Ortschaft. Sobald man aber aus der Pforte tritt, steht man zwischen Restaurants, Läden, Autos, Cafés und Bars mitten im Hier und Jetzt. Und zuletzt erscheint das große, monumentale Gebäude, das zwischen all den kleinen Fachwerkhäusern emporsteigt, wie ein Bindeglied zwischen der kleinen hessischen Provinz und der “großen weiten Welt”. Die älteste rein gotische Kirche Deutschlands, die ihre Vorbilder in den großen französischen Kathedralen, wie denjenigen von Reims und Amiens sucht, fasziniert ihre zahlreichen Besucher:innen noch heute. Zusammen mit dem Schloss, den schiefen alten Fachwerkhäusern und engen Gassen der Oberstadt lädt sie auf eine Zeitreise bis ins Mittelalter ein und ist eine zentrale touristische Attraktion der Stadt. Es ist also kein Wunder, dass wir unseren Gang durch die Marburger Geschichte an diesem Ort starten wollen, der schon so lange und so fest mit unserer Stadt verwurzelt ist und sie (fast) seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart begleitet.
Beginnen wir unsere Spurensuche nach dem #LebensgefühlMarburg deshalb zunächst einmal ganz chronologisch am Beginn des 13. Jahrhunderts. Die Erzählungen über die thüringische Landgräfin Elisabeth (1207-1231) und den Bau der Kirche ist den meisten Marburger:innen wohl – zumindest grob – bekannt. Im folgenden Beitrag möchten wir die Geschichte deshalb aus einer anderen Perspektive erzählen. Ebenso wie in der Gegenwart viele Studierende, Zugezogene, aber natürlich auch Tourist:innen von außerhalb in die Stadt strömen, suchten und fanden in ihr bereits im 13. Jahrhundert viele Menschen für kurze oder auch lange Zeit einen Platz zum Verweilen. Angezogen vom Heiligenkult um die verstorbene Landgräfin belebten sie das Marburger Herbergenwesen, förderten den Bau der Elisabethkirche und eröffnen uns vor allem eine Perspektive auf Marburg, die einem großen Teil der heutigen Einwohner:innenschaft wohl sehr vertraut ist – die der Besuchenden und Zugezogenen. Begleitet uns gerne auf unserem Kurztrip in die Vergangenheit und geht mit uns diesen Fragen auf die Spur: Warum steht in Marburg eine so imposante Kirche? Wer besuchte Marburg? Und warum?
Vor allem im 19. Jahrhundert zeichneten historische Darstellungen ein Bild, das das spätmittelalterliche Marburg als großen Wallfahrtsort mit weitreichender Bekanntheit erscheinen lässt. So schreibt der Autor Reding von Biberegg 1859 :
„Bei all diesen himmlischen Gnaden mußte die Zahl und der Eifer der Pilger, die Elisabets Grab zur Vermehrung ihrer Andacht und zur Heilung ihrer Uebel täglich besuchten, bedeutend zunehmen. Der Ruf davon verbreitete sich bald in der ganzen christlichen Welt und zog nach Marburg ebenso viele Pilger, als damals aus allen Theilen Europa’s nach St. Jacob von Compostella fuhren.“[1]
Die kleine lokalpatriotische Stimme in uns freut sich sicherlich über Erzählungen dieser Art. Bestärkt werden sie durch mittelalterliche Quellen, wie beispielsweise die Beschreibungen des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbachs (um 1180- nach 1240), der uns einen lebhaften Einblick über das Treiben in Marburg kurz nach der Heiligsprechung Elisabeths 1235 gewährt:
„Nicht nur aus den Kirchenprovinzen Mainz und Trier, sondern auch aus den weiter entfernten Provinzen Köln, Bremen und Magdeburg kamen bekanntlich unzählige Menschen nach Marburg, um hier zu beten und Heilung zu finden. Pilgerscharen, die sich auf dem Rückweg befanden, kamen Neuankommenden entgegen, sodass es ein ständiges Kommen und Gehen war. Wer Heilung erlangt hatte, tat die Gnade Gottes den Ankommenden kund. Reiche Spenden wurden dargebracht, mit denen eine steinerne Kirche über dem heiligen Grab der Elisabeth errichtet wurde… Nur mit größter Mühe konnte man die Kirche betreten oder verlassen.“[2]
Der zitierte Textausschnitt stammt aus seiner “Vita s. Elyzabeth lantgravie”, die er im Auftrag des Prior Ulrich und den Brüdern des Deutschen Ordens in Marburg niederschrieb. Ob er die Stadt in dieser Zeit selbst besucht hatte, können wir heute allerdings nicht mit Gewissheit sagen. Und auch wie groß der Ansturm auf die Grabstätte tatsächlich war und woher die Reisenden stammten, lässt sich nicht mehr in allen Einzelheiten rekonstruieren. Denn es handelt sich bei dem Werk um eine Auftragsarbeit, deren Schilderungen wir deshalb nicht völlig unkritisch Glauben schenken dürfen. Verschiedene Hinweise aus den zeitgenössischen Quellen erlauben uns aber dennoch den Vorhang zur Vergangenheit einen Spalt weit zu öffnen und zeichnen ein – wenn auch verschwommenes Bild – der Geschehnisse, das nicht ganz den Darstellungen des 19. Jahrhunderts entspricht.
Die Wunder am Grab Elisabeths

Wie groß war nun aber der Ansturm auf das Grab der Heiligen? Und wer machte sich im Spätmittelalter dorthin auf den Weg? Um diesen Fragen nachzugehen, reisen wir zunächst in die ersten Jahre kurz nach Elisabeths Tod 1231. Marburg gehörte bereits seit der Mitte des 12. Jahrhunderts zum Herrschaftsgebiet der thüringischen Landgrafen. Deren hessische Landesteile verwaltete ab 1231 Elisabeths Schwager, der Bruder ihres verstorbenen Mannes, Konrad Raspe (1206-1240). Die kleine Siedlung erstreckte sich zu dieser Zeit vor allem um die alte Kilians-Kapelle und den dort gelegenen mittelalterlichen Markt, die unterhalb des Schlosses (damals noch eine wesentlich kleinere Burg) lagen. Dort, wo drei Jahre später mit dem Bau der „E-Kirche“ begonnen werden sollte, befand sich zu dieser Zeit noch ein Hospital in dem pflegebedürftige und erkrankte Menschen der armen Bevölkerung versorgt wurden. Dieses hatte Elisabeth im Jahr 1228 gestiftet, nachdem ihr Mann Landgraf Ludwig IV. (1200-1227) auf einem Kreuzzug verstorben war und sie sich als junge Witwe in Marburg niederließ. Damit Krankheit und Elend von den Bewohner:innen der kleinen Siedlung abgeschirmt werden konnten, wurde das Hospital am Fuße des besiedelten Hügels errichtet und lag somit vor den Toren der Stadt. Der kleine einfache Fachwerkbau, der im Laufe der Zeit von immer mehr Wohn- und Wirtschaftsgebäuden umrahmt wurde, umfasste vermutlich vor allem einen großen Pflegesaal, in dem die Erkrankten dicht an dicht lagen. Direkt angeschlossen war eine kleine Kapelle, um allen die Teilnahme an der Messe zu ermöglichen. Elisabeth hatte sich bis zu ihrem frühen Tod 1231 ganz ihrem tiefen Glauben und der Pflege armer und kranker Menschen gewidmet. Die Stiftung des Hospitals war für eine adelige Frau im 13. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Mehr Aufmerksamkeit erregte bei ihren Zeitgenoss:innen jedoch die Tatsache, dass sie nicht nur die Stifterin dieser Einrichtung war, sondern auch selbst tatkräftig im grauen Bußgewand in der Pflege mithalf. Und nicht nur ihre Arbeit investierte sie in die Versorgung Bedürftiger. Sie verteilte an die Menschen in Marburg und dem Umland der Stadt zudem ¼ ihres Barvermögens (72.000 Pfennige, wobei ein Huhn etwa 3 Pfennige kostete). Ihre tiefe Religiosität und Bescheidenheit waren bereits in ihrer Zeit auf dem thüringischen Herrschaftssitz der Wartburg aufgefallen. Ganz den typischen mittelalterlichen Heiligen- und Wundergeschichten folgend, berichten uns die Quellen aus dieser Zeit, wie sie sich stets schlicht kleidete und im hohen Maße um die Pflege und Versorgung der ärmeren Bevölkerung bemüht war.
Bereits kurz nach ihrem Tod berichteten Gläubige von Wundern, die sich am Grab Elisabeths in der Kapelle des Hospitals ereignet hatten. Diese Wundergeschichten wurden im Zuge des Heiligsprechungsprozess im Auftrag Papst Gregors IX. 1235 aufgezeichnet und gewähren uns einen Blick auf 130 Besucher:innen, die zwischen 1231 und 1235 nach Marburg kamen und dort Wunder erlebten. Wir erfahren in den Protokollen ihre Namen, ihre Herkunft und welche Art von Heilung sie durch die verstorbene Landgräfin erfuhren. Weitere biografische Angaben zu ihrem sozialen Status, ihrem Alter oder ihrem Berufsstand bleiben uns leider verborgen. So erfahren wir beispielsweise von Adelheidi aus Breidenbach, die am 29. November 1232 an das Grab Elisabeths trat. Ihre kleine Tochter Isendrudis war immer wieder von schlimmen Anfällen heimgesucht worden, die sie mit knirschenden Zähnen und Schaum vor dem Mund zu Boden stürzen ließen. Deshalb hatte die besorgte Mutter zu Elisabeth gebetet und gelobt, zusammen mit Isendrudis barfüßig ihr Grab mit Gaben zu besuchen, wenn die Heilige das Mädchen von diesem Leiden erlösen würde. „Seitdem ich das Gelübde für diese machte, hat sie niemals mehr die obgenannte Krankheit erlitten“, gab Adelheidi Anfang 1235 in den Verhören des Heiligsprechungsprozesses an.[3] Die Wundergeschichten lassen darauf schließen, dass bis 1235 wohl der weitaus überwiegende Teil der Gläubigen, die nach Marburg kamen, aus der Lahnregion und der Wetterau stammten.
Marburg als Wallfahrtsort?

Die Heiligsprechung Elisabeths 1235 scheint zumindest kurzfristig auch überregional Aufmerksamkeit erregt zu haben. Das verdeutlichen die Feierlichkeiten, die am 1. Mai 1236 anlässlich der Überführung ihrer Gebeine aus der ehemaligen Ruhestätte in der Hospitalskapelle in die gerade im Bau befindliche Elisabethkirche stattfanden. Neben Gläubigen aus Marburg und der näheren Umgebung, die sich dazu an der Kirche einfanden, werden uns sehr prominente Namen genannt. Kaiser Friedrich II. nahm persönlich zusammen mit seinem achtjährigen Sohn Konrad an diesem Ereignis teil. Im Bußgewand und barfuß erschien er mit seinem Gefolge. Nach der Hebung der Grabplatte setzte er selbst dem Haupt der Heiligen eine goldene und mit Edelsteinen verzierte Krone auf. Neben ihm war auch der thüringische Landgraf Heinrich Raspe anwesend, ebenso wie Elisabeths Sohn Hermann, die Erzbischöfe von Mainz, Trier, Köln und Bremen und weitere ranghohe Persönlichkeiten der Kirche und des Adels. In den ersten Jahren nach der Erhebung der Gebeine dürfte Marburg als Wallfahrtsort auch Pilgernde aus weiteren Gebieten angezogen haben. Darauf verweisen die Fundorte vereinzelter Marburger Pilgerzeichen, wie Lund (Südschweden), Dordrecht (Niederlande) oder Lübeck. Diese Pilgerzeichen wurden in Marburg, wie an vielen anderen Wallfahrtsorten auch, aus Zinn gegossen und sind von den Besucher:innen erworben worden. Einerseits dienten sie, wie heutige Pilgersouvenirs, als Erinnerung an die Reise, sollten ihre Besitzer andererseits aber auch schützen und wurden wahrscheinlich zudem zum Gebet genutzt. Sie zeigen Elisabeth, Franz von Assisi und Christus und sind auf die Zeit kurz nach der Heiligsprechung zu datieren. Zwar wurden einige wenige Exemplare, wie bereits erwähnt, auch in weiter entfernten Gegenden gefunden, jedoch tauchen sie überwiegend in der Marburger Umgebung auf. Damit liefern sie vor allem Hinweise auf das rasche Abklingen der von Caesarius von Heisterbach beschriebenen überregionalen Elisabeth-Verehrung.
Zuletzt sei noch kurz die machtpolitische Dimension genannt, die mit dem Bau der Kirche einherging. Denn auch wenn die thüringische Landgrafen-Familie zu Elisabeths Lebzeiten in weiten Teilen nur wenig Verständnis für ihre Lebensweise zeigte, wusste sie dennoch das Aufsehen, das nach dem Tod der jungen Witwe um ihre Person entstand, geschickt für machtpolitische Interessen in Szene zu setzen. Durch unzählige Schenkungen an die Niederlassung des Deutschen Ordens in Marburg, in dessen Zuständigkeit das Hospital nach Elisabeths Tod gefallen war, sicherten sie dessen Existenz und stärkten ihre Grundherrschaft in Hessen. Der Bau einer so großen steinernen Kirche und die rasche Heiligsprechung Elisabeths zeugen also nicht nur von der Verehrung, die ihr seitens der Gläubigen entgegengebracht wurde. Beides wurde maßgeblich von den thüringischen Landgrafen vorangetrieben, denen sowohl Elisabeth als auch die ihr geweihte Kirche als Zeichen ihrer Macht und Legitimation ihrer Herrschaft dienten.
Spuren der Elisabeth-Besucher:innen
Auch wenn die Geschichte über Marburg als boomender Wallfahrtsort nach den vorangegangenen Ausführungen wohl in das Reich der Märchen einsortiert werden muss, heißt das nicht, dass die Gläubigen, die Elisabeths Grab besuchten, in unserer Stadt keine Spuren hinterlassen haben. Viele verweilten nach einem langen Fußmarsch, in manchen Fällen wohl auch einem Ritt, noch einige Zeit vor Ort. Im alten Kern der Altstadt – auf der Achse des heutigen Oberstadtaufzugs, der alten Kilians-Kapelle und des Rathauses – entstanden mehr und mehr Herbergen und die Gastronomie erfuhr einen kräftigen Aufschwung. Erkrankte Pilger wurden in dem nach dem Bau der „E-Kirche“ neu errichteten Hospital versorgt. Die Ruinen der Hospitalkapelle sind heute noch gegenüber der Elisabethkirche im Pilgrimstein zu sehen. Und auf dem Hang gegenüber des Eingangsportals der Elisabethkirche findet sich der alte Pilgerfriedhof und die dafür 1268 erbaute kleine Kapelle St. Michaelis – das „Michelchen“.

Zeitleiste 12. & 13. Jahrhundert
- 1130er: Die thüringischen Ludowinger übernehmen die Herrschaft über das Marburger Gebiet.
- 1138/39: Marburg wird in einer Urkunde das erste Mal namentlich erwähnt.
- ca. zw. 1180-1200: Der Bau der Kilianskapelle mit angrenzendem Friedhof erfolgt.
- 1222: Marburg wird in der Reinhardsbrunner Chronik als Stadt bezeichnet.
- 1228: Die Landgrafenwitwe Elisabeth von Thüringen lässt sich in Marburg nieder
- bis 1260: Die Befestigungsring im Westen und Südwesten wird erweitert (Bettinaturm und Kalbstor).
- 1290: Der Kerner (Beinhaus an der Marienkirche), der ab 1319 als Rathaus diente, wird errichtet.
- 1297: Die Weihe der Pfarrkirche St. Marien (heute Lutherische Pfarrkirche) findet statt.
Zum Weiterlesen
Erhart Dettmering: Marburg. Kleine Stadtgeschichte, Regensburg 2015.
Simon Dietrich: Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Graffiti in der Marburger Elisabethkirche – Befund, methodische Herausforderungen und Quellenwert. In: Lohmann, Polly (Hg.): Historische Graffiti als Quellen Methoden und Perspektiven, eines jungen Forschungsbereichs, Stuttgart 2018, S. 169-330.
Ulrich Hussong: Im Namen der heiligen Elisabeth. Nachleben und Jubiläumsfeiern in Marburg, (=Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur) Marburg 2007.
Zum „klassischen“ mittelalterlichen Pilgerwesen.
[1] Reding von Biberegg,o.a.: Die heilige Landgräfin Elisabeth. In: Jugendblätter (1859), S. 209-240.
[2] Sermo de Translatione Beate Elysabeth, Kapitel 3. In: Caesarius von Heisterbach: Das Leben der Heiligen Elisabeth, herausgegeben und übersetzt von Ewald Könsgen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 67/2; 2007) S. 101.
[3] Nach der Übersetzung der “Miracula sancte Elysabet” von Jürgen Jansen. Jansen, Jürgen: Medizinische Kasuistik in den “Miracula sancte Elysabet”. Medizinhistorische Analyse und Übersetzung der Wunderprotokolle am Grab der Elisabeth von Thüringen (1207-1231). Frankfurt/Main, Bern, New York 1985, S. 183.
Sehr guter zusammenfassender Beitrag!
Nur eine kleine Anmerkung: Die Elisabethkirche ist keine Kathedrale, das waren und sind nur Bischofskirchen. Bis ins 19. Jh. hinein hat man die Kirche in Marburg übrigens als „Münster“ bezeichnet.
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Vielen Dank! Das stimmt natürlich. Wir haben es auch direkt verbessert, danke für den Hinweis! 🙂
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