Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag geht es unter anderem um Verstorbene und den Umgang mit den Leichnamen suizidaler Menschen in der Frühen Neuzeit. Wenn Ihr an Despressionen und suizidalen Gedanken leidet, solltet ihr den folgenden Text nicht lesen. Hier findet ihr Informationen und Beratungsstellen.
Zum Abschluss unserer Emotionen-Reihe widmen wir uns einem Gefühl, das einigen Menschen groß und schwer auf dem Herzen liegt und uns in mancher Situation die Luft zum Atmen nimmt – Angst. Ängste gibt es in vielen Facetten. Phobien vor Spinnen, Zukunftsängste oder Ängste um geliebte Menschen begegnen uns mal mehr, mal weniger in unserem Alltag. Das war in der Frühen Neuzeit natürlich nicht anders. Seuchen, Hungernöte und Kriege führten zu Existenz- und Verlustängsten. Der folgende Beitrag beschäftigt sich aber mit einer etwas weniger alltäglichen Angst, der Angst vorm Sterben. Dazu möchte ich die Chance nutzen, euch in ein eher unbekanntes Themengebiet mitzunehmen, mit dem wir doch irgendwie trotzdem alle verbunden sind.
Körperspende
Die Ärzt*innen, zu denen ihr hingeht, wenn es irgendwo mal zwickt und drückt, haben ihr Handwerk nicht allein mithilfe von Bücherwissen und Praktika in Krankenhäusern und Praxen gelernt, sondern auch an toten Körpern. Um die menschliche Anatomie bis ins Detail zu verstehen, präparieren die Studierenden der Medizin Leichen. Das heißt, sie legen einzelne Organe, Muskeln, Sehnen etc. frei und erlangen so das Wissen darüber, wie der menschliche Körper aufgebaut ist, wie die verschiedenen Bestandteile aussehen und wo genau sie liegen. Die toten Körper stammen von Körperspender*innen, also Menschen, die sich vor ihrem Tod dazu entschieden haben, die Ausbildung zukünftiger Ärzt*innen auf diese Art und Weise zu fördern.
Aber was hat das nun mit Angst und der Frühen Neuzeit zu tun?
Das Lernen am toten Körper war auch schon in der Frühen Neuzeit Bestandteil des Medizinstudiums. Dem entgegen stand allerdings die christliche Vorstellung darüber, dass nur die Seelen unversehrter Körper, die auf einem Friedhof begraben waren, in den Himmel aufsteigen konnten.1 Freiwillige Körperspenden waren deshalb noch nicht existent. Die Körper, die auf den Seziertischen landeten, waren dorthin folglich gegen den Willen der Verstorbenen gelangt.

Nachdem sich seit dem Spätmittelalter von Italien ausgehend der Anatomieunterricht an den medizinischen Fakultäten der Universitäten etablierte, wurde es schnell üblich für die Sektionen Verbrecherleichen und die toten Körper suizidaler Menschen zu verwenden. Nach frühneuzeitlichen Vorstellungen war Hingerichteten und Suizidalen das Aufsteigen in den Himmel ohnehin verwehrt, sodass diese Praxis mit dem christlichen Glauben vereinbart werden konnte. Um die anatomische Ausbildung an den Universitäten zu fördern, wurden vielerorts Gesetze erlassen, die die Versorgung mit Leichen regeln sollten. In Schottland gewährte König James IV. 1506 der „Edingburgh Guild of Surgeons and Barbers [Edingburgher Zunft der Chirurgen und Barbiere]“ eine Verbrecherleiche pro Jahr. In Marburg obduzierte der Anatom Dryander ab 1535 die Leichname von hingerichteten Verbrechern und Maria Theresia veranlasste 1742 für die Universität Wien, dass alle sowohl in dem allhiesigen, als auch in den unweit der Stadt Wien gelegenen freyen und andern Landtgerichten justificirten Körper der Universität allhier auf derselben Anverlangen verabfolget werden sollen[…].2
Auch an vielen weiteren europäischen anatomischen Instituten fanden sich ähnliche Regelungen.
Leichenmangel
Die Anatomie gewann innerhalb der Medizin vor allem im 18. und 19. Jahrhundert immer weiter an Bedeutung, was zur Folge hatte, dass auch mehr und mehr Leichen für die Ausbildung der Ärzte benötigt wurden. Die Verbrecherleichen allein sollten dafür schon bald nicht mehr ausreichen, sodass sich die unfreiwillige „Körperspende“ auf immer mehr Menschen ausweitete. Betroffen waren sozial gemiedene und gesellschaftlich ausgeschlossene Menschen: Fahrende, Frauen, die bei der Geburt ihres unehelichen Kindes verstarben, verarmte Menschen usw. In Tübingen wurden beispielsweise 1862 auch die Leichname derjenigen, deren Beerdigungen auf staatliche Kosten gefallen wären, der Anatomie zur Verfügung gestellt.3 Damit wurden also auch Verstorbene an die Anatomie überführt, die weder gegen bestehendes Recht noch bestehende Moralvorstellungen verstoßen hatten, sich aber kein Begräbnis leisten konnten. Auch in der Landgrafschaft Hessen-Kassel wurden 1786 Maßnahmen gegen den Leichenmangel ergriffen, so sollten „gratis aufgenommene“ Hospitalinsassen vom Hohen Hospital Haina nach ihrem Tod an die Marburger Anatomie übergeben werden. Hospitäler waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch keine reinen Krankenhäuser. Vorrangig wurden dort alte und erkrankte arme Menschen gepflegt, die sich eine private häusliche Behandlung nicht leisten konnten. Der Zerteilung des eigenen Körpers sahen die Bewohner*innen jedoch mit großer Furcht entgegen: Voller Sorge wandten sie sich ein Jahr nach dieser Bestimmung an den Landgrafen:
Durchlauchitgster Landgraf, Gnädigster Fürst und Herr! Die gnädigst emanirte Verordnung, daß alle Hospitalitten von Casslischer Seite, welche gratis ins Hospital aufgenommen worden sind, nach Marburg auf die Anatomie gebracht werden müssen, hat unter selbige einen solche Schrecken verbreitet, daß mancher nicht ruhig sterben kann […] wollen wir die Resolution ertheilen, daß wir hier auf den Gottes Acker wie vorher begraben werden dörften […].4
(„Durchlauchtigster Landgraf, Gändigster Fürst und Herr! Die in Kraft getretene Verordnung, dass alle aus Hessen-Kassel stammenden Hospitalinsass*innen nach Marburg in die Anatomie gebracht werden müssen, hat unter diesen einen solchen Schrecken verbreitet, daß mancher nicht friedlich sterben kann […] wollen wir darum bitten, dass wir hier auf dem Friedhof wie zuvor begraben werden dürften […]“.)
Die große Angst vor der Sektion des eigenen Körpers resultierte zum einen aus der Befürchtung, nach dem Tod nicht in den Himmel kommen zu können, da dies nach christlicher Lehre nur unversehrten und auf dem Friedhof bestatteten Verstorbenen möglich sei. Andererseits war die Zerteilung des Körpers nach dem Tod in der Frühen Neuzeit zugleich eine verschärfte Strafe für Schwerverbrecher, deren Leichname zerstückelt und teilweise zur Mahnung öffentlich ausgestellt wurden. Für die Bewohner*innen des Hohen Hospitals Haina bedeutete die Auslieferungen ihrer Leichname an die Anatomie deshalb nicht nur eine Strafe, die in Ihren Augen dazu führen konnte, nicht bei Gott sein zu dürften. Gleichzeitig waren Sie in hohem Maße gedemütigt, indem mit Ihnen verfahren wurde, wie mit Schwerverbrechern.

Illegaler Leichenhandel
Der anhaltende Leichenmangel führte im 18. und 19. Jahrhundert aber auch noch zu weitaus groteskeren Begebenheiten. Für die britischen Inseln lässt sich beispielsweise ein richtiger Geschäftszweig nachweisen, der die anatomischen Institute auch illegal mit toten Körpern versorgte. Kürzlich beerdigte Leichname wurden von Friedhöfen entwendet, was sogar dazu führte, dass vor allem wohlhabendere Menschen in „mortsafes“ bestattet wurden, also Schutzsärgen, die verschweißt wurden, um den Körper der/s Verstorbenen zu schützen. 5

Die traurige Zuspitzung erfuhr der Leichenhandel Anfang des 19. Jahrhunderts mit den West-Port-Morden. 1827 und 1828 ermordeten William Burke und William Hare insgesamt 16 Menschen, um sie an das Edinburgh Medical College zu veräußern. Auch in diesem Fall waren die Opfer vorrangig Männer und Frauen unterer Gesellschaftsschichten: Prostituierte, Bettler*innen und Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Hauptabnehmer der Leichen war der Arzt und Anatom Robert Knox (1791-1862) der seine Studenten wahrscheinlich wohlwissentlich an den Körpern der Ermordeten lehrte.6 In Folge dieser Mordserie wurde 1832 in Großbritannien zwar ein Gesetz verabschiedet, dass die Sektion von Leichnamen, deren Herkunft nicht rekonstruierbar war, verbot, jedoch nun auch die Verstorbenen der Arbeits- und Armenhäuser frei gab, wenn Angehörige nicht rechtzeitig dagegen Einspruch einlegten.7
Durch die Aufklärung und das Abklingen strenger christlicher Vorstellungen von Leben und Tod hat sich der Umgang mit toten Körpern stark gewandelt. Noch vor 100 Jahren für die meisten Menschen unvorstellbar, gehören Urnenbestattungen und somit die Verbrennung des toten Körpers in unserer Gesellschaft zur alltäglichen Praxis. Die Vorstellung nach dem Tod von Studierenden seziert zu werden, regt in einigen von euch aber vermutlich doch etwas Unbehagen und auch die immer wieder ausgetragenen Diskussionen zur Organspende zeigen, dass der Umgang mit toten Körpern auch in unserer größtenteils säkularisierten Gesellschaft nicht unproblematisch ist. Dank der Möglichkeit zur freiwilligen Körperspende, die von vielen Menschen getätigt wird, sind die Zeiten von Leichenmangel und unfreiwilligen Körperspenden aber Gott sei Dank vorbei. Nach einem Blick auf die Geschichte stellen sich aber dennoch Fragen, die auch in der heutigen Zeit noch große Relevanz haben: Wie weit darf Wissenschaft und Forschung gehen? Wie gehen wir mit den ärmsten und schwächsten Menschen unserer Gesellschaft um? Und in welchen moralischen Grenzen verorten wir Fortschritt?
Referenzen
- Alun Evans: Irish Resurrectionism: ‚This execrable trade‘. In: Ulster Journal of Archaeology 69 (2010), S. 155-170, hier S. 158.
- Josef Pauser: Sektion als Strafe? In: Norbert Stefenelli (Hrsg.): Körper ohne Leben. Begegnung und Umgang mit Toten, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 527-535, hier S. 528.
- Rouven Kleinke: Ein Blick auf die Körperspende des Jahres 1845. Einblick in die Körperspende heute, Berlin 2007, S. 14.
- Staatsarchiv Marburg, Best. 5, Nr. 18029, zitiert nach Irmtraut Sahmland: Verordnete Körperspende – Das Hospital Haina als Bezugsquelle für Anatomieleichen (1786-1855). In: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja (Hrsg.): An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S.65-106, hier S. 68.
- Alun Evans: Irish Resurrectionism: ‚This execrable trade‘. In: Ulster Journal of Archaeology 69 (2010), S. 155-170, hier S. 155-159.
- Ebd., S. 163-167.
- Ebd., S. 167.
Bilder
Zum Weiterlesen
- Matthias Bähr, Thomas Hajduk: Tod ist ihr Geschäft. Die Ökonomisierung der Beerdigungspraxis im viktorianischen London. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (4/2015),S. 129–151.
- Eine kleine Dokumentation über die West-Port-Morde findet ihr in der Arte-Mediathek: Philippe Aleaume: Edinburgh, makaberer Leichenhandel, 2020 (arte).
- Blogartikel zu den West-Port-Morden
- Informationen zu Körperspenden der Philipps-Universität Marburg