In den Geschichte(n) der Freundschaft haben wir die Idealvorstellung der aristotelischen Tugendfreundschaft behandelt. Seit der Antike gilt sie als das non plus ultra der Freundschaft, die perfekte Seelenverwandtschaft zwischen zwei Menschen, an der sich alle folgenden Freundschaftskonzepte orientierten. Seither wurde Freundschaft konzeptionell in dieser dominierenden Form bevorzugt – eine intime und partikulare Beziehung, die leidenschaftlich gelebt und als Ideal verherrlicht wurde. Ab dem 12. Jahrhundert nahm sie das Aussehen einer affektiven Beziehung an, indem sie tendenziell der Liebe gleichgestellt wurde und deren Sprache annahm, während das antike Erbe reaktiviert wurde. Außerdem breitete sie sich über die klerikalen, adligen und intellektuellen Eliten hinaus sukzessive unter allen sozialen Schichten aus.
Aber wie so häufig im Leben scheitern Ideale oftmals an der Realität oder sie zeigen die Diskrepanz zwischen akzeptierten Normen und der Vielfalt gelebter Freundschaftsbeziehungen. Denn obwohl sie aus den gleichen antiken Inspirationsquellen schöpfen und dieselben Gemeinplätze verwenden, zeichnen sich die Freundschaftsmodelle durch eine große Bandbreite aus. Daher wollen wir uns in diesem Beitrag mit dem anderen Extrem der Freundschaftstypen beschäftigen – der Freundschaft in zwischenstaatlichen Außenbeziehungen. Vielen dürfte die deutsch-französische oder die deutsch-israelische Freundschaft ein Begriff sein, aber was bedeutet Freundschaft zwischen Staaten und was unterscheidet sie von zwischenmenschlichen Freundschaften?
Können Staaten überhaupt befreundet sein?
„Meiner Meinung nach gibt es so etwas wie nationale Freundschaft nicht wirklich. Der Begriff der Freundschaft ist zu speziell für eine so umfangreiche Beziehung. Jedes weise Königreich oder Commonwealth ist und sollte ein Verbündeter, ein Neutrum oder Feind dieses oder jenes Nachbarn sein, soweit es sein eigenes Interesse erfordert; vorausgesetzt, es wird nichts getan, was gegen Gerechtigkeit und Ehre verstößt. Das Interesse eines Verbündeten, soweit es über das Interesse seines eigenen Landes hinausgeht, ist daher ein ebenso fremder Begriff wie im Interesse eines Feindes zu handeln. [1].”

Diese pessimistische Einschätzung stammt von Jonathan Swift, dem Herausgeber des Examiner, einer den englischen Tories nahestehenden Zeitschrift, und betrifft die Beurteilung von Allianzen und Bündnissen im Zeitalter des Spanischen Erbfolgekrieges (1701-1714) und dem Friedenskongress von Utrecht 1713/14. Die „Tories“ waren seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine von zwei politischen Parteigruppierungen, die in Opposition zu den „Whigs“ standen, wobei sich hinter den Parteienbezeichnungen freilich keine monolithischen Gebilde eines voll ausgebildeten Zweiparteiensystems verbargen, sondern Fraktionen, die in inhaltlich und sprachlich scharfer Abgrenzung zueinander die politischen, religiösen und sozialen Spaltungen der englischen Gesellschaft abbildeten. Vereinfacht ausgedrückt, bildeten die Whigs die hofkritische Opposition, die sich für die protestantischen Freiheiten einsetzten, Handels- und Finanzinteressen des städtischen Bürgertums vertraten und den Krieg auf dem europäischen Kontinent unterstützten. Demgegenüber standen die Tories der Krone und der anglikanischen Kirche nahe, fühlten sich den Interessen von Landadel und Grundbesitzern verpflichtet und setzen sich für einen raschen Kriegsaustritt Englands ein.
Dass Swift multilateralen Zusammenschlüssen skeptisch gegenüberstand, ist für das 18. Jahrhundert nicht untypisch. In der frühneuzeitlichen Völkerrechtsliteratur wurde vor Bündnissen jeglicher Art gewarnt, weil sie als unzuverlässig galten und bei den ersten Konflikten umgehend zerbrächen. So auch in diesem Fall: 1701 hatten sich England, die Republik der Niederlande und Kaiser Leopold I. von Habsburg in der „Haager Allianz“ im Konflikt um den vakanten spanischen Thron gegen Frankreich und Spanien zusammengeschlossen. Was sie verband war ein übergeordnetes Interesse, nämlich den Zusammenschluss der französischen und spanischen Monarchie unter einem gemeinsamen Bourbonenkönig zu verhindern, da dies das europäische Mächtegleichgewicht in Schieflage gebracht hätte. Der Anlass zu dieser Sorge war Philipp V. von Anjou, der Enkel des französischen Königs, der im Testament des verstorbenen spanischen Königs als Alleinerbe der spanischen Monarchie eingesetzt worden war und der durch seine Verwandtschaft zu Ludwig XIV. prinzipiell auch für die französische Krone erbberechtigt war. Abgesehen von dem eben genannten Ziel verband die Akteure der Haager Allianz jedoch herzlich wenig, da jeder eigene Partikularinteressen verfolgte. So bestand ein gängiges Tory-Narrativ darin zu argumentieren, dass England im Verlauf des Konfliktes entgegen seinen eigenen Interessen zum Hauptträger des Krieges geworden und der Krieg unter der Verantwortung der Vorgängerregierung der Whigs in ihrem eigenen und im Interesse der Alliierten fortgeführt worden sei.
Hier sehen wir ein zentrales Signum von zwischenstaatlichen „Freundschaften“: Sie waren zeitlich befristete sowie zweckgebundene, interessengeleitete Zusammenschlüsse von politischen Akteuren und verkörperten damit das genaue Gegenteil der hedonistischen Tugendfreundschaften, die um ihrer selbst willen und dauerhaft geschlossen wurden. Freiwilligkeit und gegenseitiges Wohlwollen zeichneten zwar auch zwischenstaatliche Freundschaften aus, aber wenn es um ureigene Interessen ging, die den Zielen der Freundschaft entgegenstanden, hörte die Freundschaft auf.
Daher verbietet es sich für Swift im politischen Kontext von „Freundschaft“ zu sprechen, weil der Begriff der Freundschaft zu speziell ist für eine so umfangreiche Beziehung. Stattdessen unterscheidet er zwischen drei Beziehungsformen im zwischenstaatlichen Kontext: Verbündeter, Neutrum und Feind. Er verortet Freundschaft in den Argumentationsbahnen des Vertragsrechtes. Wie die Menschen, werden auch Staaten als im Naturzustand stehend betrachtet, der ein Kriegszustand ist. Dieser kann nur durch Vereinbarungen überwunden werden, zu denen aber niemand gezwungen werden kann.
„[…] Ich glaube, dass es kein Wort gibt, das heute verwendet wird, das einen größeren Trugschluss in sich trägt als Konföderation oder Allianz. Von einem Mann, der ein wahrer Patriot seines Landes ist und in einem Konföderationskrieg im Ausland dient, kann man sagen, dass er sich mit einer fremden Nation zusammen gegen eine andere Nation engagiert, aber nicht richtig für beides. Er kämpft für kein Land, außer für sein eigenes. Daraus folgt, dass es manchmal nicht einfach ist, zwischen einem Verbündeten und einem Feind zu unterscheiden, wenn man die Dinge so betrachtet, wie sie an sich sind und nicht nach ihrem äußeren Aussehen beurteilt [2].”
Die frühneuzeitliche Herrschaftslegitimation bestand darin, für die Sicherheit und das Gemeinwohl der eigenen Untertanen zu sorgen und endete an den Grenzen des eigenen Territoriums. Darüber hinaus gab es kein staatliches Gewaltmonopol, was die zwischenstaatlichen Beziehungen und den Frieden dauerhaft stabilisiert hätte.
Gleichwohl waren rhetorische Wendungen der Freundschaft ein wichtiges Mittel, um Nahbeziehungen, besonders bei häufiger oder ständiger Abwesenheit, aufrechtzuerhalten – dabei spielte die tatsächliche Zuneigung aber eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn die zahlreichen Freundschaftsbekundungen in offizieller Korrespondenz und Freundschaftsverträgen etwas anderes suggerieren. Mitunter konnten zwischen Feindschaft und Freundschaft nur wenige Wochen und Monate liegen. Kontrahenten, die sich bis vor Kurzem noch bis aufs Blut bekriegt hatten, versprachen sich in Friedens- und Freundschaftsverträgen in überbordenden Superlativen „ewige und wahre Freundschaft“, die außerdem für ihre zukünftigen Erben und Untertanen gelten sollte. Man könnte nun versucht sein zu glauben, dass es sich bei diesen Freundschaftsbekundungen um pure Heuchelei handelt, weil diese Superlative unabhängig vom Freundschaftskonzept nicht für ganze Personenverbände gelten können, zumal es sich um schriftlich „angeordnete“ Freundschaften handelte, womit der wichtige Aspekt der Freiwilligkeit nicht erfüllt war. Tatsächlich ging es hierbei auch nicht um die eine perfekte Freundschaft, sondern um eine utilitaristische Freundschaftsbeziehung, d.h. die Rede von der Freundschaft war nur Mittel zum Zweck. Zudem war im Gegensatz zur Tugendfreundschaft bei Aristoteles oder Montaigne Freundschaft im politischen Kontext nicht auf einen Akteur oder wenige Akteure beschränkt, sondern es galt die Maxime: je mehr Freunde, desto besser!
Das bedeutet freilich nicht, dass die Zeitgenossen sich der historischen Bedeutung der Freundschaft für das menschliche Zusammenleben nicht bewusst wären, im Gegenteil: Im historischen Querschnitt gibt es zahlreiche Beispiele, die die Bedeutung der zwischenstaatlichen Freundschaft preisen- angefangen bei Nikomachischen Ethik von Aristoteles…
„Außerdem scheint die Freundschaft die Staaten beisammenzuhalten, und die Gesetzgeber scheinen sich mehr um sie zu bemühen als um die Gerechtigkeit. Denn die Eintracht scheint der Freundschaft ähnlich zu sein; nach ihr streben sie vor allem. [3]“
über Kants Völkerrechtstheorie…
„Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenn gleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip.[4]“
bis hin zur UN-Charta, die sich für die Entwicklung zu freundschaftlichen Beziehungen und Zusammenarbeit der Staaten einsetzt. Auffällig ist, dass allen drei Statements der Prozesscharakter der zwischenstaatlichen Freundschaft inhärent ist. Was fehlt oder unausgesprochen vorausgesetzt wird, ist, dass Freundschaft intensiver Pflege, wenn es nach Swift geht mitunter auch Streit bedarf, um gedeihen zu können und nicht zur leeren Floskel zu verkommen:
„Es ist in der Tat schwierig in ein vielversprechendes Gespräch zu kommen, ohne sich zu streiten, [5]“
und weiter schreibt er…
„Sich über unsere unglücklichen Spaltungen zu beschweren, ist das, worüber sich alle Parteien einig sind. Aber wie können diese Spaltungen überwunden werden? Nicht durch allgemeine Ermahnungen zur Einheit, keine formalen Erklärungen, dass Frieden eine sehr gute Sache sei; besonders wenn sie von den größten Feinden und Störern der Einheit kommen. Keine endlosen, unnützen Predigten über Mäßigung, […]. Dies sind keine ausreichenden Methoden, um die ersehnte Versöhnung zu erreichen. Der Weg, es zu tun, ist, an der Wurzel anzusetzen und die Ursachen der Animositäten zu beseitigen. Wenn wir uns vereinen, müssen wir uns in etwas vereinen, wir müssen uns auf ein gemeinsames Grundsatzschema einigen; [6].“
Was hier deutlich wird, ist, dass „Freundschaften“ im zwischenstaatlichen Kontext ein gemeinsames Ziel benötigen, um zu funktionieren. Fehlt diese gemeinsame Grundlage, weil das Ziel bereits erreicht wurde oder die freundschaftlich verbundenen Akteure sich uneins über die Zielsetzung sind, verlieren Freundschaften ihren Sinn. Das ist einer der Gründe, warum Swift der Haager Allianz keine Zukunft attestierte, obwohl ihre Mitglieder sich ewige und unverletzliche Freundschaft geschworen hatten.
Ich möchte an dieser Stelle die Frage vom Anfang wieder aufgreifen: Können Staaten überhaupt befreundet sein? Freundschaften im zwischenstaatlichen Kontext bezeichnen Allianz- und Bündnisgenossenschaften, die auf vertragsrechtlicher Grundlage beruhen, ihrerseits aber freundschaftliche Qualitäten, wie gegenseitiges Wohlwollen und Interessengleichheit voraussetzen.
Noch ein Wort zum Schluss: Momentan scheint es eine breite gesellschaftliche Beobachtung zu sein, die „wahre“ Freundschaft durch ökonomische Zwänge gefährdet zu sehen und dass Freundschaften zunehmend zu bedeutungslosen, oberflächlichen Zweckgemeinschaften verkommen. Jede(r) sei nur auf ihren (seinen) eigenen Vorteil bedacht und sehe in jeder Freundschaft in erster Linie eine Erweiterung ihres (seines) eigenen Netzwerkes für das persönliche Fortkommen, die man jederzeit einseitig beendet, sobald man keinen Nutzen mehr daraus ziehen kann. Wer darin ein Signum der Moderne zu erkennen glaubt, darf die These nach dieser Lektüre getrost in Zweifel ziehen.
Referenzen
[1] The Examiner/ From Thursday August 7, to Thursday August 14, 1712.
[2] Ebd.
[3] Zit. nach DICKE, Klaus: Freundschaftliche Beziehungen zwischen Staaten – ein altruistisches oder ein rechtliches Prinzip der internationalen Beziehungen?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Vol. 6 (1998), S. 163-179, hier S. 169.
[4] Ebd., S. 165.
[5] The Examiner/ From Thursday October 12, to Thursday October 19, 1710.
[6] Ebd.
Zum Weiterlesen
DICKE, Klaus: Freundschaftliche Beziehungen zwischen Staaten – ein altruistisches oder ein rechtliches Prinzip der internationalen Beziehungen?, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Vol. 6 (1998), S. 163-179.
LESAFFER, Randall: Amicitia in Renaissance Peace and Alliance Treaties (1450-1530), 4 J. Hist. Int’l L. 77 (2002), S. 77-99.